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Poesietherapie: Kann Schreiben heilen?

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Seit jeher haben Menschen versucht, Gefühle, Gedanken und Erinnerungen in Worte zu fassen, um zu heilen, zu trösten und Kraft zu spenden: Segensformeln, Flüche, um das Böse zu vertreiben, Zaubersprüche, Wahrsagungen, Beschwörungen und Besprechungen, Psalme oder Lieder – all das sind Formen des Schreibens, um mit der Macht der Worte Krankheiten und Lebenskrisen zu überwinden.

fotolia©matttildaBereits Aristoteles bekundete 322 v. Chr. die Heilkraft der Poesie: „Die Poesie ist eine der natürlichsten menschlichen Ressourcen für den Heilungsprozess.“ Der griechische Gott der Heilkunst Asklepios, Namensgeber des Aeskulapstabes (der heute als Symbol der Pharmazeuten und Ärzte gilt), setzte schon 300 v. Chr. klare Prioritäten bei therapeutischen Maßnahmen: „Zuerst das Wort, dann die Pflanze, zuletzt das Messer.“ Sein Vater Apollon war übigens der Gott der Dichtung und der Heilkunst, was die enge Verbindung zwischen den Disziplinen einmal mehr verdeutlicht.

Kontinuierlich finden wir in der Geschichte Sprache als Medium für Trost in zahlreicher Literatur. Rimbaud, Kafka, Nietzsche, Thoreau – sie alle haben mit der Kraft der Poesie den Dialog zwischen Körper und Seele forciert und auch selbst heilende Kraft der Worte genutzt.

Durch den Aspekt der Selbsterforschung und Selbsterkenntnis beim Schreiben hat es immer einen selbsttherapeutischen Charakter, ganz gleich ob Pro- und Contra-Listen zur Entscheidungshilfe, Tagebuchaufzeichnungen, Kurzgeschichten, Romane, Autobiografien oder Gedichte.

Poesie forciert den Dialog zwischen Körper & Seele

Die moderne Poesietherapie ist um 1909 entstanden, als der russische Mediziner und Psychologe Vladimir Lejine seine Patienten selber kleine Theaterstücke schreiben ließ, indem er sie ermutigte, ihre Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, Ängste in den Texten auszudrücken. Dieser Ansatz wurde von einem seiner Schüler in den 60er Jahren ausgebaut. In den USA wurde schon früh mit der Poesie als Medium in Kliniken gearbeitet und bis heute zählt die Poesietherapie neben weiteren Gestalttherapien zu den anerkannten und erfolgreich praktizierten Methoden. Neben diversen Poesiegruppen und Fachmagazinen für Schreibende, befasst sich auch die wissenschaftliche Forschung mit dem kreativen und therapeutischen Schreiben, während das Thema in Europa und Deutschland leider (noch) in den Kinderschuhen steckt. Dabei kann es so viel leisten: Der Schreibprozess fördert das kreative Erleben und kann Erlebisse sowie Erinnerungen freisetzen. Er erfolgt sehr viel langsamer als das Denken und kann so besser helfen, Gedanken, Gefühle und Erinnerungen (neu) zu ordnen. Die durch den kreativen Akt geförderte Kooperation der linken, rationalen mit der rechten, emotionalen Hemisphäre steigert die Nutzung der Gehirnkapazität, wobei die Verbindung der beiden Hemisphären in der Poesietherapie wie in der klassischen Psychoanalyse durch freie Assoziation angeregt wird. Probleme und neue Lösungsansätze lassen sich schneller und einfacher finden, wenn sowohl die linke, die Sequenzen und logische Reihen erstellt, als auch die rechte Gehirnhälfte, die unter dem Aspekt der Verbundenheit von Dingen und Ereignissen arbeitet, gleichzeitig aktiviert werden.

Beim kreativen Schreibprozess verlässt der Schreibende die Ebene der Alltagssprache und entwickelt Formen poetischer Sprache, die über Bílder/Symbole/Metaphern funktioniert. Dieser Wechsel der Sprachebenen ist zugleich auch ein Wechsel der Bewusstseinsebenen und der Ich-Zustände; dabei sind sowohl rationale wie auch emotionale Potenzen beteiligt. Bilder schlagen eine Brücke vom Tagesbewusstsein zu den inneren, teils verborgenen, kreativen Quellen des Schreibenden. Durch die Symbolhaftigkeit der Sprache tritt man in einen intensiven Dialog mit seinem Unbewussten. In den Sprachbildern lässt sich gezielt nach Lebensgrundsätzen und gelernten Glaubenssätzen forschen.

Schreiben als Akt der symbolischen Wunscherfüllung

Immer wieder werde ich gefragt, was das Besondere am Schreiben sei, es könne doch schließlich jeder. Eben. Genau das ist das Besondere. Es ist wie mit dem Atmen: jeder kann es automatisch, einige haben nur verlernt, es „richtig“ zu tun. Jeder Mensch verfügt über seine natürliche Sprache. Man muss sie nur entdecken und ggf. lernen bzw. den Mut haben, seine Kreativität fließen zu lassen. Und manchmal muss man länger nach der Quelle suchen.

Am Ende eines sechswöchigen Schreibkurses kam übrigens die Frau, die zu Beginn noch skeptisch gewesen war, auf mich zu und berichtete mir begeistert von ihrer eigenen Antwort zur Besonderheit am Schreiben, die sie erfahren hatte: „Ich kann fremde Welten erfinden, in neue Rollen schlüpfen, mich ausleben, ich sein.“ Und noch viel mehr kann Schreiben leisten, mehr als die symbolische Wunscherfüllung:

1. Unsere poetische Sprache verbirgt vielerlei urbildliche Symbole (auch Archetypen), die unseren Seelenzustand widerspiegeln. Richtig genutzt, eröffnen uns unsere Urbilder ein tiefes Verständnis für unsere Lebenszusammenhänge. Je mehr wir uns mit unserer persönlichen Sprache auseinandersetzen, Symbole entdecken und entziffern lernen, desto mehr können diese zur Orientierungshilfe werden.

2. Mit dem therapeutischen Schreiben hat man ein Werkzeug in der Hand, um sich das Leben ein wenig besser zu gestalten, es zu ordnen und zu verstehen.

3. Seelische Probleme hängen oft mit unterdrückten Gefühlen oder nicht gelebten Wünschen zusammen. Das Schreiben kann unterstützen, diese besser zum Ausdruck zu bringen, die eigene Sprachlosigkeit zu überwinden und die Seele zu befreien.

4. Schreiben setzt Erinnerungen frei. Durch Spiel mit der Sprache fallen einem jede Menge Dinge ein, die man seit Jahren nicht gedacht hat und ggf. nie wieder gedacht hätte.

5. Liest der Verfasser seinen eigenen Text laut, kann er sich im Akt des Sprechens seiner selbst vergewissern, auf den Klang seiner eigenen Stimme hören und seines individuellen Sprachrhythmus bewusst werden – das bedeutet: eine Annäherung an seine eigene Körperlichkeit.

6. Schreiben kann eine beglückende, ästhetische Erfahrung sein, bei der man sich als Ganzes erlebt.

7. Schreiben heißt, sich selber lesen. Wer sind wir? Wer waren wir? Wer wollen wir vielleicht sein? Haben wir Ziele? Leben wir unser Leben? Um all diese Sinnfragen herauszufinden, ist innere Zuwendung nötig. Die meisten Menschen haben es heute verlernt, sich mit sich selbst zu beschäftigen, und lenken sich lieber ab, indem sie ihre Freizeit vollpacken mit Unternehmungen. Schreiben ist Achtsamkeitstraining auf Papier, eine Begegnung mit sich selbst, ein ritualisierter Rückzug.

Probieren Sie es aus. Aber vergessen Sie nicht: Der Weg ist das Ziel. Gute Reise!

Ela Windels Ela Windels
Sozialpsychologin, Heilpraktierkin für Psychotherapie, Journalistin und Dozentin für therapeutisches Schreiben an den Paracelsus Schulen. Praxis im Therapiezentrum List, Hannover
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