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Psychologische Dimension von Schwangerschaft und Geburt, Teil 3

An der Schwelle zur Elternschaft kann ein zukunftsorientiertes Fundament entstehen, wenn Mutter und Kind Schwangerschaft und die Zeit vor, während und kurz nach der Geburt bewusst und sensibel gestalten/erleben können, damit das Kind in eine sichere und ihm zugewandte (Bindungs-)Welt hineinwachsen kann. So entsteht Resilienz für bio-psychosoziale Gesundheit, die lebenslang stark macht für den Umgang mit Herausforderungen und für die Balance von Belastungen. Die Pränatale Psychologie stellt evidenz- und erfahrungsbasierte Erkenntnisse und Werkzeuge zur Verfügung.

Die biografische Strecke, die hier zur psychologischen Dimension von Schwangerschaft und Geburt betrachtet wird, beschäftigt sich hauptsächlich mit ausgewählten Aspekten der Zeit vor, während und kurz nach der Geburt eines Kindes.

Hinweis: Auch während dieser Etappe der „Reise“ durch das Thema Schwangerschaft und Geburt kann es vorkommen, dass unvermittelt ein Trigger aus den „Falten der Landschaft“ auftaucht. So empfiehlt sich weiterhin für Sie, achtsam auf dem Weg zu sein – mit sich und dem werdenden Kind.

Gebären, Geborenwerden, Geborensein

Geburt ist eine Metapher für Veränderung und Erneuerung, ein Stadium des Übergangs als sensibles körperliches und psychisches Ereignis.

Aus der Sicht von C. G. Jung können Gebären und Geborenwerden archetypische Erfahrungen der Transformation sein und gleichzeitig individuelle Wiedergeburt bedeuten (innere Geburt eines neuen Persönlichkeitsaspektes/ des Selbst – als höhere Stufe des Bewusstseins). In diesem Sinne kann Geborensein auch als das lebenslange Ziel der Individuation, als natürliche Transformation, verstanden werden.

Die Evolution hat Frauenkörper instinkthaft seit mehreren Millionen Jahren auf eine Geburt vorbereitet. Im Medizinsektor scheint die Erinnerung zu verblassen, dass das Gebären ein biologisches Geschehen ist, das uraltem inneren Wissen folgt. Heute wird der physiologische natürliche Vorgang immer mehr durch Technik dominiert. Unvorhergesehene/nicht erforderliche Eingriffe in das natürliche Geburtsgeschehen erzeugen bei Mutter und Kind Stress und existenzielle Angst. Die Erfahrungen von Schwangerschaft und Geburt verankern sich bei beiden im Zell- bzw. Körpergedächtnis und auf der psychischen Ebene. Es entstehen innere „Muster“, die unbearbeitet zur „Matrix“ für ein ganzes Leben werden können.

Ein Beispiel praktischen Erlebens aus therapeutischer Sicht, das auch noch in die heutige Zeit passen könnte:

„Ich merkte, dass ich häufig mit den Opfern eines medizinischen Systems zu tun hatte, das offenbar für die tieferliegende Geburtsdynamik blind war. Es kamen schwer angeschlagene, depressive und traumatisierte Frauen zu mir, die darum kämpften, mit einer Erfahrung zurechtzukommen, die weit von dem entfernt war, was sie erwartet hatten. Ich sah auch misshandelte, verschreckte, verwirrte und verängstigte Babys. Die meisten Frauen hatten den Wunsch, die Geburt ihres Kindes als einen mit Freude erfüllten kreativen Vorgang zu erleben.“ (Benig Mauger, analytische Psychotherapeutin, Dublin, S. 82 in Janus, L./ Haibach, S. (Hrsg.): Seelisches Erleben, ML, Kulmbach, 2015).

Im gesellschaftlichen Kontext entstehen komplexe Wechselwirkungen zwischen Geburtskultur, seelischer Gesundheit von Eltern und Kind, deren Vor- und Folgegenerationen und gesamtgesellschaftlicher Entwicklung und deren Folgen.

Statistik

2020 führten nur noch 32,7 % der 1 903 Krankenhäuser in Deutschland Entbindungen durch (1991: 49,2 % in 2 411 Krankenhäusern). Im Krankenhaus haben 2020 743 899 Frauen entbunden (1991 waren es 822 842 Frauen). Circa 98 % der Geburten finden in Kliniken statt (Quelle: DeStatis, Abruf 28.05.2023).

2022 wurden in Deutschland 738 856 Kinder lebend (vaginal oder per Sectio/Kaiserschnitt) geboren (je 1 000 Einwohner: 2022 8,8 und 2018 9,5 Kinder). Bei gleichbleibender Zahl der Schwangerschaften kam es im ersten Quartal 2022 (neun Monate nach Beginn der Corona-Impfungen) zu einem drastischen Rückgang der Geburten (https://initiative-corona.info/fileadmin/dokumente/Geburtenrueckgang-Europe-DE.pdf). Weltweit kamen 2022 160747 971 Kinder lebend zur Welt; davon war jedes vierte Kind zu früh (Frühgeburt/Geburt vor der 37. SSW) oder zu klein (niedriges Geburtsgewicht/weniger als 2 500 g) geboren worden (Quelle: Ärzteblatt 09.05.2023. Auf die „Small Vulnerable Newborns“ (SVN) entfielen mehr als die Hälfte aller perinatalen Todesfälle. Von den 2020 in Deutschland insgesamt 765 636 lebend geborenen Kindern, kamen 60 682 (7,9 %) als Frühgeborene zur Welt; die Tendenz ist steigend (Quelle: Bundesauswertung Geburtshilfe, 2020). Bei Kindern, die durch künstliche Befruchtung entstehen (In-vitro-Fertilisation/IVF, Intrazytoplasmatische Spermieninjektion/ICSI), ist die Frühgeborenen-Rate erhöht.

2021 (2020) sind in Deutschland 3 420 (3 162) Kinder tot geboren worden; das sind 4,3 (4,1) Totgeburten je 1 000 Geborene. Zwischen 2007 und Ende 2021 ist die Zahl der Totgeburten je 1 000 Geborener um 24 % gestiegen; im vierten Quartal 2022 stieg die Zahl der Totgeburten um 20 % (Stillbirth in https://www.cureus.com/articles/149410-estimation-of-excess-mortality-in-germanyduring-2020-2022#!/).

Im ersten Lebensjahr starben 2020 (2021) insgesamt 2 373 (2 368) Säuglinge. In 2022 (vorläufige Zahlen) starben im ersten Lebensjahr 2 352 Säuglinge, davon 1 221 in den ersten sieben Lebenstagen.

Die Kaiserschnittrate der Geburten in einer Klinik hat sich in den letzten 30 Jahren in etwa verdoppelt: von 15,3 % in 1991 auf 29,7 % in 2020 und 30,9 % in 2021; bei IVF-Kindern lag die Sektiorate 2007 bei 36 %. Die (mechanische oder medikamentöse) Geburtseinleitung wird bei etwa 20 bis 25 % aller Schwangerschaften durchgeführt (S2K, Leitlinie Geburtseinleitung AMWF 015-088, März 2021). 2020 wurde bei 6,0 % der Klinikentbindungen eine Saugglocke eingesetzt und bei 0,4 % der Entbindungen eine Geburtszange. (Quelle: DeStatis, Abruf 28.05.2023).

Geburt

Der Beginn und der Verlauf einer Geburt folgen grundsätzlich einem gesunden natürlichen Rhythmus. Das Kind wird neuroimmunologisch von den eigenen und den Körpersystemen der Mutter unterstützt. Es möchte nach seinem Tempo den Start-Impuls für den Geburtsvorgang selbst geben. (William Emerson berichtete, dass 95 % der Erwachsenen in den von ihm begleiteten therapeutischen Prozessen erklärten, dass sie sich über die Geburt und die Art und Weise, wie sie geboren werden wollten, damals bewusst waren).

Ist es gelungen, dass Mutter und Kind sich im feinen Einklang ganzheitlich auf das Ereignis der Geburt vorbereitet haben, können sie sich zur rechten Zeit dem Gebären und In-die-Welt-Kommen hingeben; die Geburt wird voraussichtlich ohne Komplikationen verlaufen. Standardisierte frauenzentrierte Geburtsmodelle orientieren sich am „midwifery model of care“ (https://mother-hood.de/stichwortsuche-geburt/geburtsmodelle/).

Herausfordernd kann eine Geburt in unvorhersehbar eintretenden Notsituationen werden. Dann ist kompetente frauen- und kindzentrierte Geburtshilfe ein Segen. Die Kinder und ihre Mütter erleben die dann erforderlichen Eingriffe als hilfreich und sind erleichtert und dankbar für die Notfallbegleitung.

Überraschend erscheinen die im Deutschen Ärzteblatt 2023, 120(4): A-140/B-122, veröffentlichten Inhalte „Hebammen geleitete Kreißsäle (HGKS): Gutes Angebot bei geringem Risiko“. Es wird aufgezeigt, dass in Deutschland nur 20 % der Schwangerschaften als „Niedrigrisikoschwangerschaften“ (NRSW) klassifiziert werden könnten. (Eine Klassifizierung als NRSW ist Voraussetzung für eine Geburt in einem HGKS). Im Gesamtdurchschnitt aller Kliniken würden dann zwei Drittel der NRSW-Gebärenden dann doch einen Transport in einen ärztlich geleiteten Kreißsaal benötigen.

Gebärstörungen können entstehen aufgrund der Geburtszeit (Frühgeburt, Übertragung, vorzeitiger Blasensprung, Geburtseinleitung), der Kindslage/die Poleinstellungen, der Wehen-Koordination (Wehenschwäche, -sturm) oder des Geburtsverlaufs (sehr schnell/„Sturzgeburt“ oder sehr langsame/protrahierte Geburt). „Überfällige“ (errechnete) Geburtstermine sind grundsätzlich nicht als Geburtskomplikation oder Notfall zu bewerten.

Nicht notfallbedingte medizinische, unsensible bis gewaltvolle oder ungünstige Eingriffe (z. B. als Folge von Ängsten der Professionellen) können traumatische Erfahrungen von Mutter und Kind induzieren und den natürlichen Verlauf der Geburt stören oder blockieren. Auch unbearbeitete belastende Erfahrungen aus der eigenen Schwangerschaft der Mutter/des Vaters oder deren Vorgenerationen können auf den Geburtsprozess übertragen und mehrdimensionale schwere/existenzielle Geburtsbelastungen von Mutter und Kind erzeugen. Die heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisse, z. B. die Polyvagal-Theorie von Stephen Porges, könnten ein neues Verständnis für die Auswirkungen von existenziell erlebtem Stress des Kindes während der Geburt ermöglichen.

Geburtserfahrungen werden bei allen Übergängen im Leben (Kindergarten, Schule, Heirat, Familiengründung, Trennung/Scheidung, berufliche Veränderung, unerwartete Kündigung, Krankheiten, Unfälle, Tod von nahen Menschen usw.) reaktiviert und spiegeln in den Ähnlichkeiten die Prägungen. Dieses Wissen ist besonders bedeutsam, wenn Kinder im schulischen oder sozialen Kontext Hilfe brauchen, z. B. bei Schulverweigerung, Lernbereitschaft/-störungen, ADHS, Mobbing usw. (Käppeli, Klaus: „Die Schule – Geburts- und Lebensraum des Kindes“, Mattes, Heidelberg, 2019).

Die durch Studien belegte Kritik an „Gewalt während der Geburt“ in Kliniken wird lauter: z. B. Eingriffe ohne hinterfragte medizinische Notwendigkeiten, die eher an einem industrialisiert erscheinenden und wirtschaftlichkeitsdominierten Geburtenmanagement in Kliniken orientiert sind, oder aus „professioneller Angst“.

Seit 2010 sind Haftpflichtversicherungsprämien für außerklinisch tätige Hebammen und Ärzte existenzgefährdend gestiegen. Das bringt auch Schwangere/ Ungeborene in stressvolle Nöte, wenn sie eine frauen-/kindzentrierte Geburtsbegleitung selbstbestimmt wählen möchten.

Das für Veränderung erforderliche unterstützende öffentliche Interesse ist gering. Werdende Eltern erhalten Rückhalt durch verschiedene Initiativen für eine sichere und selbstbestimmte Geburt (z. B. https://www. greenbirth.de/de/ oder https://mother-hood. de/). Mit rechtzeitigen Überlegungen vor der Geburt zur Ausgestaltung einer „Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht für eine Geburt ohne Gewalt“ können sich werdende Eltern wirksam gegen Unvorhersehbares wappnen, wenn sie den ausgefüllten Vordruck, im Vorgespräch mit der angedachten Geburtsklinik, gegen Quittung übergeben (https://geburtohnegewalt.wordpress.com/).

Immer noch Pioniere… (?)

Stellvertretend für viele andere: „Psychoanalytiker“ bzw. „Tiefenpsychologen“, die Anfang des 20. Jahrhunderts Einzelaspekte der lebensgeschichtlichen Bedeutung der Geburt erstmals thematisierten, waren Otto Rank („Das Trauma der Geburt“ 1924, Reprint 2007, Psychosozial, Gießen) und Gustav Hans Graber („Die Ambivalenz des Kindes“) („Ursprung, Einheit und Zwiespalt der Seele“, Goldmann TB), 1924 Psychoanalytischer Verlag, Wien).

Aus der Sicht der Humanistischen Psychologie erweiterte Arthur Janov ab Mitte der 1960er-Jahre die Erkenntnisse über die vorsprachliche Zeit und setzte sie in der von ihm entwickelten „Primärtherapie“ um. Auch Stanislav Grof ermöglichte aus diesem Blickwinkel durch seine Forschungen mithilfe psychoaktiver Substanzen (LSD) in den 1960er-Jahren bewusstseinserweiternde Erfahrungen, u. a. zum Geburtserleben. Durch Auswertung von Selbsterfahrungsprozessen charakterisierte er die innere Einheitlichkeit des Erlebens des Geburtsprozesses in vier Stufen. Sie spiegeln überwiegend menschliche Gefühle und Konflikte mit archetypischem Charakter:

Matrix I (vor der Geburt): Einheitlichkeitserfahrung in der Gebärmutter

Matrix II (Eröffnungsphase): Gefühle und Bilder von Ausweglosigkeit/Verzweiflung

Matrix III (Austreibungsphase): Gefühle und Bilder eines titanischen Kampfes

Matrix IV (Durchtrittsphase): Gefühle und Bilder der Wiedergeburt und Befreiung

Unter dem Titel „Feelings. Eine Einladung nach Innen zu schauen“ (STATE, Barcelona- HUB, 2023) wurde beim OFFF-Festival am 24.03.2023 eine eindrucksvolle filmische Umsetzung (https://vimeo.com/811193417) gezeigt, die vom Konzept der vier perinatalen Matrizen Stanislav Grofs ausgeht. Der Film will Gewicht und Einfluss der tiefgreifenden frühen Emotionen auf das menschliche Leben zeigen.

Ludwig Janus weist in der Fülle seiner Literatur auf die vieldimensionale Bedeutung von Schwangerschaft und Geburt und deren bedeutsame psychohistorische Aspekte hin. In „Geburt“ (Psychosozial, Gießen, 2016) beschreibt er die elementaren Erfahrungen des Kindes im Verlauf der Geburtsphasen:

Stadium I „Eröffnung“

Zunehmende Enge des uterinen Raumes (bei noch nicht eröffnetem Ausgang) mit Gefühlen/Empfindungen einer sehr bedrängenden „Sackgassensituation“, die sich im Wiedererleben von LSD-Sitzungen als Kampf mit einem riesigen Drachen, einer gigantischen Schlange, einer Spinne, einem Wal, einer Krake zeigen; körperlich wird starker Druck insbesondere auf den Kopf und die Ohren und Gefühle von Hitze und Herzbeklemmung wahrgenommen.

Stadium II „Austreibung“

Die Vorwärtsbewegung im Geburtskanal erhöht den Druck auf Kopf und Schultern; im Wiedererleben: Gefühle von Ausweglosigkeit, eingeschlossen sein, Verzweiflung bzw. von heroischen Gefühlen des Bestehens und Siegens in einem titanischen Kampf mit einem übermächtigen Gegner oder auch Gefühle von sexueller Erregung, Kraft, Durchhaltenwollen.

Stadium III „Rotation“

Vor allem für das Gelingen der Drehung des Kindes sind eine ungestörte instinktive Sicherheit des Kindes und eine fließend abgestimmte körperliche Unterstützung der Mutter unbedingt erforderlich; es entstehen starke Kompressionsschmerzen an Kopf und Ohren; im Wiedererleben: elementare Gefühle des Erfolgs und der Behauptung, Bestätigung, des Verbundenseins oder Gefühle der Verwirrung, Desorientierung, Verzweiflung, wenn der Einklang nicht möglich ist.

Stadium IV „Durchtritt“

Elementares Befreiungsgefühl; im Wiedererleben intensive Eindrücke der ersten Gerüche, des Lichtes, der ersten Begegnung mit Mutter und Vater; bei Störungen im Kontakt mit den Eltern: Gefühle von Nichtigkeit und Verlassensein.

William Emerson erweiterte die Einsichten zur Behandlung von Geburtstraumata bei Säuglingen und Kindern. Er belegt, dass bei 4% der Babys sehr schwere, bei 50% leichte bis mäßige Geburtstraumata vorliegen. (Emerson, William, „Geburtstrauma“, Mattes, Heidelberg, 2020). Auf Basis seiner langjährigen Forschungen zu geburtshilflichen Eingriffen (insbesondere Anästhesie/ Schmerzbehandlung, Zangen-/Saugglockenentbindung, Kaiserschnitt) wies er auf die fehlende wissenschaftliche Begründung sowie die unzureichenden Beweise für deren Unbedenklichkeit hin.

Bereits 1997 gab er einen systematischen Überblick über mögliche (ungünstige) prägende Erlebnismuster durch Geburtshilfe auf bio-psychosozialer Ebene. Seine Forschungsergebnisse legten warnend nahe, die gebräuchlichsten Geburtshilfemaßnahmen auf ihre Sicherheit zu prüfen. Dies hat heute noch Gültigkeit.

Geburtshilfe

Eine Mutter, die bei der Geburt entspannt ist, wird vor allem vom ventralen Vagus beeinflusst. Entstehen für die Mutter bewusster/ unbewusster Stress und Angst, wirkt der „biologische Imperativ“: Das sympathische Nervensystem wird aktiviert oder der dorsale Vagus führt in die Erstarrung. Zunehmend kommt es zu vorhersehbaren Folgewirkungen und weiteren geburtshilflichen Eingriffen. Dies erschwert bei Mutter und Kind die psychische Anpassung an den Geburtsprozess: Das unvorbereitete Kind erlebt z. B. die (für das Kind überdosierte) Gabe von Wehen hemmenden bzw. den Einsatz Geburt einleitender Substanzen. Bei Mutter und Kind entstehen Verzweiflung, Angst und Schock. Zusätzliche geburtshilfliche Eingriffe können erforderlich werden, die oft zur „primären Geburtschirurgie“ (Kaiserschnitt) bzw. zum Einsatz von Zange/Saugglocke/Kristeller-Handgriff führen können.

Kinder, die ungeschützt mithilfe von belastenden geburtshilflichen Maßnahmen auf die Welt kamen, kommen nicht unbedingt auch gut ins Leben: Häufig bleiben Anteile der Psyche (aufgrund der existenziellen Ängste) ungeboren stecken. Solche Erfahrungen können später unbewusst auslösen, dass Situationen vermieden werden, die die Ursprungsgefühle aktivieren könnten, oder dass Konfrontation durch Wiederholung der Ursprungsgefühle als Selbstheilungsversuch/Katharsis immer wieder gesucht wird.

Mit bedrohlich erlebter Geburtseinleitung können diffuse Selbstwertstörungen („ich genüge nicht“) oder Wut auf die Mutter („sie fügt mir Schmerzen zu“) in Verbindung stehen. Kontrollzwang (z. B. aus Angst vor schleichenden Einflüssen von außen) oder misstrauisches Verhalten bis zur Paranoia können nachklingen. Ein Drogenmissbrauch kann in der Geburtserfahrung wurzeln (z. B. unbewusste Erinnerung an die aufputschende und damals lebensrettende Wirkung durch Wehen fördernde Mittel).

In einer Studie mit 200 Opiatabhängigen wurde statistisch ein Zusammenhang mit der Gabe bestimmter Schmerzmittel während der Geburt hergestellt (Jacobson/ Nyberg in: Harry van der Zee, Homöopathie und Geburtstrauma, Homeolinks Publishers, AB Haren, 2007). Gewaltsame Erfahrungen im letzten Teil des Geburtsprozesses können später als Wahnideen (z. B. gleich sterben zu müssen oder getötet zu werden) oder in Furcht vor Tunneln oder Dunkelheit „nachklingen“.

In Situationen mit Zeitdruck kann die perinatale Angst aktiviert werden: Es wird schwer, in solchen Situationen, die z. B. im Beruf vorkommen können, Entscheidungen zu treffen oder aus eigener Kraft eine Aufgabe zu beginnen bzw. die Konzentration zu behalten (in latenter Erwartung einer Unterbrechung) oder Verantwortung zu übernehmen. Weiter kann der Umgang mit fordernden Autoritäten zur Aktivierung des Schockzustandes mit Angst und Handlungsunfähigkeit führen.

Auch eigenes autoritäres Verhalten kann zur ständigen Handlungsmaxime werden. Kinder, die in einem dissoziierten Zustand geboren werden, können diesen als „Normalzustand“ mit in ein Leben im Funktionsmodus nehmen. Zum Beispiel kann sich das „Steckenbleiben im Geburtskanal“ bis ins hohe Alter fortsetzen (Abwarten in der entstandenen psychischen Erstarrung verhindert das Leben in der eigentlich vorhandenen Fülle des Potenzials). Auf der Körperebene können neurologische Störungen, Lernstörungen, Störungen von Seh- und Hörvermögen, Sensibilitätsstörungen etc. zurückbleiben.

Aus belastenden Geburtshilfen können sich auch bei der Mutter Folgestörungen wie Depressionen, sekundäre Sterilität, Uterusrupturen, postpartale Blutungen, Traumatisierung der Gebärmutter durch Ausschabung des Endometriums insbesondere nach Kaiserschnitten und deren psychische Folgen entwickeln.

Bei Kaiserschnitten war früher davon ausgegangen worden, dass sie „transgenerational vererbt“ würden und dass für die Frau, die eine Kaiserschnittentbindung hatte, gelten würde „einmal Kaiserschnitt – immer Kaiserschnitt“. Dieses Nocebo gilt es zu unterbrechen. Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, dass dieser Mythos überwindbar ist: Bei therapeutischer Schwangerschaftsbegleitung (auf biologischer und psychischer Ebene) von Mutter und Kind können die Weichen in Richtung normale Geburt und bindungsstärkend gestellt werden.

Ein (nicht) überraschendes Beispiel zu Dimensionen des Themas Geburtseinleitung: In Deutschland werden aktuell bis zu 25% der Geburten eingeleitet (Einleitungen: 2005, 165/2014, 217 von 1 000 Geburten).

Am 03.03.2023 weist www.Ärzteblatt.de auf eine Beobachtungsstudie hin (Amsterdam University Medical Centers in Acta Obsteticia et Gynecologica Scandinavien, (2023, DO; 10.1111/aogs.14520). Demnach könnte eine Geburtseinleitung – im Vergleich zu spontan einsetzenden Wehen – mit einer schlechteren Schulleistung des Kindes verknüpft sein. Das Ärzteblatt zitiert in diesem Zusammenhang den entsprechenden Kommentar von Sven Kahl, Koordinator des Universitäts-Perinatal-Zentrums Franken, Uniklinikum Erlangen: „Auf das Vorgehen in deutschen Geburtskliniken hat diese Studie nur einen geringen Einfluss, da die routinemäßige Geburtseinleitung ab der 39. SSW in den deutschsprachigen Ländern stets kritisch gesehen wurde“.

Am 23.05.2023 wurden in Deutschland die Ergebnisse der „IGLU“-Studie (Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung)/int. „PIRLS“ (Progress in International Reading Literacy Study) veröffentlicht. Sie untersucht, wie gut Grundschüler Texte lesen und verstehen können. Seit 2016 und gegenüber der ersten Erhebung vor 20 Jahren sind die Leseleistungen der Viertklässer kontinuierlich gesunken. Ein Viertel der Schüler erreicht nicht den Standard für eine Lesekompetenz, die für einen erfolgreichen Übergang vom Lesenlernen zum Lesen notwendig ist (mindestens Kompetenzstufe III). Es wird erwartet, dass die betroffenen Schüler in ihrer weiteren Schullaufbahn „erhebliche Schwierigkeiten in fast allen Schulfächern haben“.

Am 09.06.2023 zieht der Leiter des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger im ARD-Morgenmagazin unter der Überschrift „Weniger Schulfächer, mehr Effizienz“ Schlüsse aus den Ergebnissen der „IGLU“-Studie 2023: Er fordert u. a., der Englischunterricht an den Grundschulen solle abgeschafft werden; stattdessen sollten Schüler Lesen, Schreiben und Rechnen lernen.

Bindung

Erscheinende Unsicherheiten zwischen Präkonzeption und nachgeburtlicher Zeit etablieren aufgrund der existenziellen Abhängigkeit des Kindes nachhaltige (Ur-)Ängste (Details s. „Freie Psychotherapie“ 02.23, Tabelle S. 64). Die Bindungsentwicklung wird dann vielfach gestört. Das autonome Nervensystem lernt zunächst „so ist die Welt“. Daraus entwickeln sich ggf. ungünstige Gewohnheiten des Kindes im Hinblick auf Sicherheit und Verbundenheit.

Die geprägten Energiemuster können lebenslang jederzeit im Alltag getriggert werden. Unbewusst kommt es dann gewissermaßen zu einer Art Kurzschluss zwischen einer (vorsprachlichen) Notsituation/ Nahtoderfahrung und einer aktuellen Lebenssituation. Die andere Möglichkeit wäre, die geprägten Energiemuster können z. B. durch aktualisierende fördernde Bindungserfahrungen umgeformt werden.

Michel Odent hat in seinem Buch „Die Wurzeln der Liebe“ (Psychosozial, Gießen, 2018) auf die hohe Bedeutung der ersten Stunde nach der Geburt für das Wachsen einer nachhaltigen liebevollen Beziehung durch lebensbestätigendes Bonding hingewiesen. Wenn das erschöpft ankommende Kind sofort nach der Geburt Haut an Haut auf Bauch oder Brust der Mutter liegt (besonders auch nach Kaiserschnittgeburt), werden seine sofort einsetzenden physiologischen, hormonellen, emotionalen Veränderungen (z. B. Temperatur, Blutzuckerspiegel, Atmung, Neurotransmitterspiegel) stabilisiert. Mütter mit künstlich erzeugten Kindern brauchen manchmal nach den besonderen Anstrengungen länger Zeit, bis sie ihre „medizinalisierten“/funktionalisierten Gedanken in seelisches Mitschwingen/ Nähe mit dem Säugling wandeln können.

Mit der Geburt vollzieht das Kind mehrere Übergänge: Veränderung der Empfindung (aus der Dämmerung ins Licht, ungedämmte Geräusche, Temperaturgefälle ca. 15° C, Hautkontakt), Veränderung des Blutkreislaufs („von der Plazenta zum Kind“ zu „durch die eigenen Herzkammern“) und Geburt der Atmung (Atmungsschock bei zu schneller Abnabelung), Veränderung der Schwerkraftverhältnisse (Erfahrung der eigenen Körper- und Ich-Grenzen, Erprobung von Kraft oder Schreckreflexen als Basis späterer Spannungsmuster; Bedrohung durch die Weite des Raumes/ mögliche Grundlage für Agoraphobie). Die Qualitäten der Übergänge beeinflussen die Qualität der entstehenden selbstregulatorischen Fähigkeiten des Kindes.

Die Zeit unmittelbar nach der Geburt („Goldene Stunde“) wirkt, bei entsprechender Gestaltung, stressreduzierend und lässt bei Männern, die mit ihrem Vatersein identifiziert sind, den Testosteronspiegel ansteigen. In Notsituationen nach der Geburt kann diese Zeit unterstützender sein als technische Interventionen.

Bei natürlicher Geburt wurde im Körper der Mutter ein Hormoncocktail („Belohnungssystem“) aktiviert, der die mütterliche Fürsorge und das bindungsfördernde Stillen stimuliert. Die meisten Mütter möchten ihr Kind sehr gerne in dieser Weise unterstützen. Gestillt werden ist für das Neugeborene eine elementare körperliche und psychische Erfahrung: Die Vormilch (Kolostrum) fördert die Ausprägung des individuellen Mikrobioms bzw. die Ausreifung des Immunsystems/des Verdauungstraktes des Kindes („Leihimmunität“ und „Nestschutz“).

Beim Stillen in ungestörter Umgebung mit Augen- und Hautkontakt kann die Mutter Endorphine an das Kind weitergeben. Bei beiden erhöht sich der Oxytocin-Spiegel, ihre Gehirnwellen werden synchronisiert.

Nicht gestillt werden, löst beim Kind ein Gefühl von Ungewolltsein und Verlassenheit aus. Geburtshilfliche Maßnahmen (z. B. Geburtseinleitung, Schmerzmittel oder Anästhetika), Lebenserfahrungen oder nachgeburtlicher Stress der Mutter können den Milchbildungsprozess stören. Folgt daraus für das Kind das Erleben einer Mangelsituation „nicht genug für mich“, kann dies zu einem unbewussten Nährboden für Neid oder Eifersucht oder zu einem Gefühl von Ungewolltsein führen oder im späteren Leben können sich immer wieder Mangelsituationen konstellieren.

Auf Konflikte zwischen Mutter und Kind während Schwangerschaft und Geburt kann das Kind mit Unverträglichkeit der Muttermilch oder mit konsequenter Verweigerung des Stillens reagieren.

Ein Neugeborenes ist neurophysiologisch unfähig, sich selbst zu beruhigen. Gesunde Entwicklung ist dann möglich, wenn das Baby zuverlässig die Erfahrung macht, da ist jemand, der mich sieht, wenn ich Hunger, Angst, Schmerzen habe, mich dann hält, mir Sicherheit gibt, wenn ich aufgeregt bin. Kommt die erforderliche Hilfe wiederholt nicht in der neurophysiologen erforderlichen Qualität, steckt das Neugeborene bis zu seiner Erschöpfung in der Aufregung fest; sie wird im Körper gespeichert (Entwicklungstrauma).

Für die Entwicklung der Affektregulation des Neugeborenen ist ebenfalls ungünstig, wenn die Mutter ihr Kind nur zu ihrer eigenen Beruhigung beruhigt.

Babys nehmen fein und unbewusst wahr, dass die ganze Sippe dabei ist, wenn sie von der Mutter auf den Arm genommen werden, denn in diesem Moment erinnert sich der Körper der Mutter unbewusst an die entsprechenden Erfahrungen, die sie und ihre Vorfahren gemacht haben. Das Kind kann dann spüren „ich bin liebenswert, gewollt, einzigartig“ oder es nimmt ihre Hemmungen zur Zuwendung wahr, die mit den Erfahrungen (z. B. Ablehnung, Schmerz) von Mutter und Ahnen verbunden sind.

Mit der Entbindung sehnt sich das Kind danach, „du“ zu „sagen“, ein Gegenüber zu haben, von dem es angeschaut wird, das seine Kostbarkeit und seine bedingungslose Liebe erkennt.

Sollte es vorkommen, dass sich Neugeborene/ Säuglinge nicht entspannen können (z. B. Schreibabys) und die Eltern dadurch in Not kommen (Angst, Wut, Aggression), sollte Klienten sehr empfohlen werden, sich bald Unterstützung von außen zu holen (Anlaufstellen z. B. Schreibabyambulanz https://isppm.ngo)oder sich therapeutisch begleiten zu lassen, um an durch Schwangerschaft und Geburt getriggerten eigenen Themen zu arbeiten.

Die Summe vieler Bindungs-Einzelerfahrungen kann sich als „Massenphänomen“ manifestieren. Aufgrund der unbewussten Vorgänge können sich die Menschen den kollektiven Wirkmechanismen kaum entziehen, wenn gesamtgesellschaftlich Angst machende Botschaften kommuniziert werden (z. B. Katastrophenmeldungen). Diese Einflüsse haben – vorhersehbare – subtile retraumatisierende Effekte.

Mit Überlegungen zur (Massen-)Bindung beschäftigte sich Sigmund Freud bereits 1921 mit „vergesellschafteten hoch organisierten, dauerhaften künstlichen Massen“, anhand der Beispiele „Kirche“ (Gemeinschaft der Gläubigen) und „Heer“ (Armee). Freud wies darauf hin, es sei dort per Definition die „Regel“, dass das „Oberhaupt“ alle Einzelnen der „Masse“ mit der gleichen Liebe liebt. Das Oberhaupt biete familienähnliche Bindungsstrukturen (mit Mutter-/ Vaterersatz) an und entspreche damit dem elementaren Bedürfnis der Menschen nach Bindung. Dies könne dem einzelnen Gruppenmitglied insbesondere dann (unbewusst) in seinem Leben entgegenkommen, wenn es an seinem Lebensanfang prekäre Bindungs-Mangel-Situationen gab (Freud, Sigmund, „Massenpsychologie und Ich- Analyse“, Gesammelte Werke, Bd. 13, Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 1921).

Diese Erkenntnisse weisen früh auf die gesamtgesellschaftliche Bedeutung frühkindlicher Bindung hin. Sie wurden später und bis in die jüngste Zeit, für unterschiedliche Zwecke, zielorientiert angepasst und strukturiert (meist missbräuchlich) angewendet.

Bonding, Gesehen- und Gehaltenwerden, Körperkontakt, Wärme, Stillen usw. unterstützen das Kind von Anfang an dabei, Gefühle von Geborgenheit, Vertrauen, Sicherheit, Selbstvertrauen als Muster in sich zu verfestigen. Prägende Bindungs- Fehleinstimmungen bis traumatische Ängste belasten das Kind, wenn die erlebten Beziehungen dem Ideal nicht/nur eingeschränkt entsprechen. Wenn während Schwangerschaft und Geburt für das Kind Belastungen entstanden waren, kann die Mutter auch nach der Geburt die Chance ergreifen, dem Kind neue und fördernde Erfahrungen zu ermöglichen und dadurch Traumafolgestörungen abfedern.

Durch willkommen heißendes, liebevolles Getragensein, werden beim Baby Fundament und Urmuster für späteres Bindungsverhalten und Stresstoleranz weiter ausgebaut. Wenn es gelingt, entstehen innere Muster für „Lebensfreude“, „Empathie“, „Sicherheit“, „Selbstwert“, „Autonomie“, „Friedensfähigkeit“ mit Multiplikatoreffekt für die Folgegenerationen.

Ausblick

Therapeutische Überlegungen und Erfahrungen folgen in Teil 4.

Gabriele Hoppe
Heilpraktikerin für Psychotherapie, tiefenpsychologisch und pränatal fundierte Traumatherapie, Coaching und Supervision

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