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Ahnungen ... stille Weckrufe der Verantwortung

Es ist erstaunlich, dass das Ahnungsbewusstsein, ein Phänomen, das vor mehr als zwanzig Jahren vom Psychosomatiker Dr. F.-W. Deneke erstmals zur Diskussion gestellt wurde, in Fachkreisen und im Laienpublikum bis heute kaum beachtet wird. Dabei sind Ahnungen, Intuition und das Bauchgefühl doch Erfahrungen, die jeder kennt: schemenhafte Wahrnehmungen oder undeutlich konturierte Erinnerungsfetzen, verbunden mit angenehmen oder besonders unangenehmen Gestimmtheiten, ausgelöst durch einen Gedanken, einen Geruch, ein Geräusch, eine Berührung oder eine beiläufige Beobachtung.

Das Ahnen ist eine Bewusstseinserfahrung, die zunächst undeutlich, oft flüchtig, nicht fokussiert bewusst ist, aber auch nicht unbemerkt bleibt. Unser Bewusstsein und unser Unbewusstes sind nämlich nicht zwei voneinander getrennte Funktionsbereiche, sondern ein Kontinuum mit vielen Abstufungen zwischen den Polen „bewusst“ und „unbewusst“. Die Inhalte dessen Mittelbereichs existieren zwar oft außerhalb des fokussierten Bewusstseins, sind aber nicht unbewusst. Sie werden sehr wohl registriert und können in den Aufmerksamkeitsfokus gehoben werden.

Die Pflege unseres Ahnungsbewusstseins ...

... das heißt, das gelegentliche Schärfen unserer Aufmerksamkeit für Ahnungen, kann außerordentlich hilfreich sein, vor allem vor wichtigen Entscheidungen. Bei solchen benutzen wir zunächst unser rationales Denken: Wir wägen ab, vergleichen Vor- und Nachteile verschiedener Lösungen, bemerken manchmal aber auch, wie ungefragt Ahnungen, diffuse oder klare Gefühle und unerwartete Gedanken oder Bilder auftauchen. Wenn wir diesen Eingebungen Aufmerksamkeit schenken, vergrößern wir die Chance, einen bestimmten Zusammenhang umfassender zu verstehen und damit unseren Handlungsspielraum auszudehnen. Unsere Entscheidungen können dadurch verantwortungsvoller werden: Schädliche oder wenig soziale Auswirkungen von geplanten Entscheidungen werden erkennbar und können vermieden werden.

Verantwortung ...

... bedeutet die Übernahme der Verpflichtung, für die möglichen Folgen einer Handlung (oder das Unterlassen einer solchen) einzustehen und gegebenenfalls dafür Rechenschaft abzulegen.

Die bewusste Beachtung einer Ahnung ...

... kann uns aber auch in Schwierigkeiten bringen, sodass wir mit unserer Aufmerksamkeit schnell zu einer anderen Wahrnehmung oder einem anderen Gedanken flüchten. Denn mit einer erhöhten Aufmerksamkeit für Ahnungen ist unvermeidbar auch eine vertiefte Einsicht in unsere Verantwortlichkeiten gegenüber anderen Menschen, der Natur und uns selbst verbunden. Dies lässt dann kaum mehr zu, eine Verantwortung zu verleugnen oder zu relativieren. Zeichen der Flucht vor Ahnungen sind alltäglich. Die Aussage „Ich habe keine Ahnung“ kann eine solche sein, in zugespitzter Form ist sie es umso wahrscheinlicher: „Ich habe absolut keine Ahnung, keine blasse Ahnung“. Oft bedeuten solche Zurückweisungen schlicht: „Ich will davon nichts wissen.“ Ähnliche Hintergründe sind in folgenden Aussagen manchmal zu vermuten.

Als Privatperson:

„Das ist mir neu.“
„Daran erinnere ich mich nicht.“
„Warum musst du gleich so aggressiv werden?“
„Das hättest du mir früher sagen sollen.“
„Ich kann doch nicht Gedanken lesen.“

In Vertretung einer Organisation:

„Dafür sind wir nicht zuständig.“
„Für uns hat Sicherheit oberste Priorität.“
„Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt.“
„Die entsprechenden Dokumente sind leider verloren gegangen.“
„Unsere Lieferanten sichern uns die Einhaltung der Menschenrechte zu.“

In einer Schlüsselszene der Bibel, in der Jesus vor vielen spottenden Zuschauern gekreuzigt wurde, wird berichtet, dass Jesus sprach: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Nichtwissen ist oft keine gute Begründung für ein krasses Fehlverhalten, denn die Zuschauer ahnten auch damals, dass sie aus egoistischen Gründen rächenden Verführern folgten.

Interessant ist, dass das amerikanische Filmdrama mit James Dean aus dem Jahr 1955, das im Deutschen unter dem Titel „Denn sie wissen nicht, was sie tun“ gezeigt wurde, im englischen Original den Titel „Rebel Without a Cause“ (Rebell ohne Grund) trägt.

Der Film handelt von in Banden organisierten Halbstarken, die sich als verwöhnte Jugendliche im aufstrebenden Nachkriegsamerika von der Selbstzufriedenheit und den engen Normen ihrer gutbürgerlichen Eltern zu befreien suchten. Die Gründe ihres Verhaltens waren für Außenstehende sehr wohl nachvollziehbar, für die betroffenen Erwachsenen aber vielleicht nur erahnbar.

In der Politik könnte die verstärkte Aufmerksamkeit für das Ahnungsbewusstsein zur schnellen Aufdeckung oder gar zur Verhinderung von Skandalen dienen. So zum Beispiel im Dieselskandal der deutschen Autobauer: Da wurden über mehrere Jahre unerlaubte Abschalteinrichtungen in Millionen von Dieselfahrzeugen eingebaut, um vorzutäuschen, die Abgasnormen würden eingehalten. Wie konnte es so weit kommen?

Als sich gezeigt hatte, wie schwer das Projekt „sauberer Diesel“ zu erreichen war, hatte irgendjemand den Vorschlag zum Betrug einem Vorgesetzten vorgetragen, vielleicht nur in einer Andeutung. Der Vorgesetzte hat den Tipp angenommen, ihn vielleicht nur wortlos abgenickt und die Geschichte nahm ihren Lauf.

Neben den Entwicklern der Betrugssoftware wussten vermutlich viele Konzernverantwortliche davon. Mehrere Hundert oder gar Tausende von Personen, die an der Verbreitung des Betrugs beteiligt waren – Verwaltungsräte, CEOs, Mitarbeiter der Fahrzeugindustrie bis hin zu den für die Überprüfung des Einhaltens der gesetzlichen Abgasverordnung zuständigen Beamten (immer m/w/d) – ahnten, dass da eine riesige Täuschung inszeniert wurde. Aber sie schwiegen lange. Sie befürchteten, bei Bruch der Verschwiegenheit des Verrats bezichtigt und geächtet, gemobbt oder sogar entlassen zu werden. Wenn es damals üblich gewesen wäre, in wichtigen Entscheidungen kritische Ahnungen miteinzubeziehen, wären Fragen wie „Entscheide ich mich dafür, mir mit Aufrichtigkeit wesentliche Nachteile einzuhandeln?“ oder „Wann wird für mich Anpassung gegen mein Empfinden unerträglich?“ unvermeidbar geworden.

Auch der Wirecard-Skandal hat gezeigt, wie viel Schaden durch das Verdrängen oder bewusstes Missachten von Ahnungen entsteht. Dieser Zahlungsdienstleister stürzte 2020 in die Insolvenz, als bekannt geworden war, dass in seiner Bilanz zwei Milliarden Euro nicht mehr aufzufinden waren. Der begleitende publizistische Aufschrei war durch vorgetäuschte Ahnungslosigkeit geprägt: Die deutsche Finanzmarktaufsicht und die Wirtschaftsprüfer hätten „alle versagt“. Aber das stimmt nicht.

Die Abschlussprüfer, die von den zu Prüfenden (nicht vom Staat) ausgesucht und bezahlt wurden und den zu prüfenden Unternehmen teilweise auch als Berater dienten, hatten genau das getan, wofür sie engagiert worden waren, nämlich die Schlupflöcher in der Grauzone zwischen legaler und illegaler Bilanzverschönerung zu finden: „Prüfe uns, solltest du etwas finden, das dir nicht korrekt erscheint – z. B. unsere Tricks zur Bilanzverschönerung – oder du uns keine neuen Tricks zeigen kannst, ersetzen wir dich gerne durch einen anderen Prüfer.“

So etwa hätte die unausgesprochene Instruktion lauten können. Vorgespielte Ahnungslosigkeit und die damit gedeckten Betrügereien sind Gift für die Demokratie und Futter für das Wachsen von Verschwörungstheorien, weil es eben auch echte Verschwörungen gibt.

Missachtete Ahnungen sind auch „zuverlässige“ Bausteine der misslichen Lage, in die die Welt in den vergangenen paar Jahren durch die Erderwärmung, die Ausbeutung der Bodenschätze, die Coronapandemie und jüngst durch die Kriege in Syrien, der Ukraine und in den ärmsten Ländern Afrikas und Asiens geraten ist. Zwar sind es vor allem diktatorisch regierte Großmächte wie China, Russland und der Iran, die verheerend wirken, aber die europäischen und nordamerikanischen Regierungen haben viele Ahnungen und Warnungen in den Wind geschlagen.

So kam Putins Versuch, die Ukraine militärisch an sich zu reißen, nicht unerwartet, denn er hatte mit seinen ihm hörigen Oligarchen genügend westliche Geschäftsleute und Politiker von sich abhängig gemacht, um nicht allzu ernsten Widerstand erwarten zu müssen.

Josef Ackermann, der als Vorstandsvorsitzender die Deutsche Bank vor zehn Jahren zur weltgrößten Bank entwickelt hatte (mit der Feier zu seinem 60. Geburtstag auf Einladung von Angela Merkel im Kanzleramt) und danach der Bank durch den Verkauf von Schrottpapieren die schlimmste Krise beschert hat, ist seit Jahren mit Putin und russischen Oligarchen geschäftlich eng verbunden und Ex-Bundeskanzler Schröder als Aufsichtsratsvorsitzender des Ostsee-Pipeline-Betreibers NordStream sowieso auch.

In Österreich wurden zwei Ex-Kanzler russische Verwaltungsräte: Wolfgang Schüssel bei Lukoil, Christian Kern bei der russischen Staatsbahn und die frühere Außenministerin Karin Kneissl (Putin hatte ihr als Ehrengast zu ihrer Hochzeit Saphirohrringe im Wert von 50 000 Euro mitgebracht) wurde Verwaltungsrätin bei Rosneft. Ergänzt werden solche Bindungen durch russische und chinesische Cyberangriffe zur Destabilisierung der westlichen Welt, unterstützt durch den gefährlich anwachsenden europäischen und amerikanischen Rechtspopulismus mit Querdenkern, Spaziergängern und Verschwörungstheoretikern.

Was können die Bürger demokratischer Staaten gegen eine solche Entwicklung tun? Sie können ihre Ahnung, dass eine seit Jahren gesicherte Erkenntnis tatsächlich zutrifft, als Realität anerkennen. Damit ist die Wahrheit gemeint, dass Menschen, die unter einer autoritären Erziehung aufwachsen, bei Verunsicherung stets dazu neigen, autoritäre, neoliberale und wenig fürsorgliche Führungsfiguren zu wählen, wie Renz-Polster (2019) eindrucksvoll darstellt und Fuchs (2019) mit seinen Beschreibungen der Kindheit autoritärer politischer Führer belegt. Wer den Wahrheitsgehalt dieser Ahnung anerkennt, wird bei politischen Wahlen und Abstimmungen mithelfen, Bedingungen zu schaffen, unter denen die Verbreitung fürsorglicher Erziehung wachsen kann.

Literatur

  • Deneke, Friedrich-Wilhelm: Psychodynamik und Neurobiologie. Dynamische Persönlichkeitstheorie und psychische Krankheit. Schattauer, Stuttgart, 2013
  • Fuchs, Sven: Die Kindheit ist politisch. Kriege, Terror, Extremismus und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen. Matte, Heidelberg, 2019
  • Renz-Polster, Herbert: Erziehung prägt Gesinnung. Wie der weltweite Rechtsruck entstehen konnte – und wie wir ihn aufhalten können. Kösel, München, 2019

Kollbrunner, Jürg:
Seiner Ahnung vertrauen.
Wege zu mehr Verantwortung in Familie, Gesellschaft und Politik.
Schwabe, Basel, 2022

Weitere Hauptpublikationen:

  • Der kranke Freud, 2001
  • Die Reanimation der Psychosomatik, 2010
  • Willkommenskultur in rechtspopulistischen Zeiten. 2020

Dr. phil. Jürg Kollbrunner
Psychodynamisch-systemischer Psychotherapeut und Psychoonkologe

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