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Alkohol-Abusus

2010-01-Alkohol1

Fallstudie

2010-01-Alkohol2Am 4. März 2008 meldet sich an meinem Praxistelefon ein Mann im Alter von 52 Jahren. Seine ruhige, belegt klingende Stimme ist freundlich und teilt mir mit, dass Herr X. seit einiger Zeit unter Verstimmungen leide. Im Gesprächsverlauf wird deutlich, dass der Anrufer seit Monaten arbeitslos ist und offensichtlich auch ein „Alkoholthema“ hat. Er habe schon bei anderen „Beratungsstellen“ (LWL-Tagesklinik sowie ein weiteres psychologisches Institut) Kontakt aufgenommen. Er gedulde sich in einem Falle seit Längerem hinsichtlich Rückmeldung und im anderen Falle sei die Wartefrist von über einem Jahr für ihn keine wirkliche Perspektive. Daher versuche er es nun bei mir. Wir verabreden uns nach einigen vertrauensbildenden Fragen meinerseits für ein Kontaktgespräch vier Wochen später.

Zu dem vereinbarten Gespräch erscheint ein freundlicher übergewichtiger Mann (130 kg bei 175 cm Körpergröße), der schon sehr früh seine Kooperationsbereitschaft signalisiert. Die Anamnese ergibt, dass er seit 24 Jahren glücklich mit einer knapp gleichaltrigen Partnerin verheiratet ist, zwei „wohlgeratene“ Töchter hat (11 Jahre/Gymnasiastin und 19 Jahre/Studentin), dass der Vater (Abteilungsleiter, autoritär und sehr rational) vor langer und die Mutter (Hausfrau, ichbezogen und darstellungsorientiert) vor sieben Jahren verstorben sind. Zwei ältere Geschwister beiderlei Geschlechts haben für ihn den eigentlichen seelischen Rückhalt gegeben.

Nach Phasen von Arbeitslosigkeit, Angestelltsein und Selbstständigkeit sei er aktuell seit längerer Zeit erneut arbeitslos und sehe beruflich keine optimistische Perspektive. Es zeigt sich eine deutliche Zukunftsangst mit Verarmungsszenarien.

Im weiteren Verlauf der Anamnese ergibt sich durch ärztlich gesicherte Befunde, dass er Diabetiker ist, Tinnitus sowie Bluthochdruck hat, unter Problemen mit der Schilddrüse leidet, ihn Angst- und Panikattacken mit Klaustrophobie befallen, es distymische Wellen gibt und er seit ca. 15 Jahren (!) ein deutliches Alkoholproblem hat – täglicher Alkoholkonsum von durchaus üblichen drei Flaschen Rotwein pro Abend. Ein- und Durchschlafprobleme rauben ihm zusätzlich Energie. Bezogen auf Diabetes, Distymie und Bluthochdruck ist er medikamentös ärztlicherseits gut eingestellt, so dass wir schnell als Hauptthema für unsere Arbeit den Alkohol- Abusus herauskristallisieren, bei dessen Lösung er dringend um meine Hilfe bittet.

In der ersten Stunde unserer Arbeit reframen wir zunächst die Distymie auch dahingegend, sie als wertvolle Infoquelle sehen zu können in Bezug auf wichtige Bedürfnisse, die bisher zu wenig beachtet wurden. Auch die Verdrängungstendenz können wir sehr schnell lösungsorientiert entwickeln, sodass sich die Angst vor diesen „unangenehmen“ Gefühlen schnell relativiert. Herr X lernt das Zulassen und Hinspüren von „negativen“ Gefühlen. Als Hausaufgabe bekommt er das Führen eines Glückstagebuches, in dem er alle positiven Ereignisse eines Tages festhalten kann.

Zur Festigung der eigenen Position üben wir in folgenden Begegnungen immer wieder mehrere Entspannungs- und Ressourceübungen wie Atem-Entspannung, Kohärenztraining nach David Servan-Schreiber, Seelen-Tank, Moment-Of-Excellence aus dem NLP (mit Glasmurmel als Schnellabruf- Anker) und eine gute Grundhaltung (guter Stand) aus dem „Embodyment“ ein. Gemeinsam erstellen wir eine Liste, was alles an Ressourcen bereits zur Bewältigung von Problemen und Herausforderungen vorhanden ist. Eine Aufklärung hinsichtlich Schlaf und Schlaf-Hygiene nebst 14-tägigem Schlafprotokoll nimmt die Spitze der Einund Duchschlafstörung. Zum Abreagieren aufgestauter Wut und Anspannung gehen wir wiederholt in den Wald, um an einem (abgestorbenen) Baum die überschießende Energie abzureagieren und den emotionalen „Panzer“ etwas zu lockern.

Mit diesem Fundament gut ausgestattet starten wir das eigentliche Thema „Freisein von der Alkoholsucht – Wiedererlangung der Selbstbestimmung“. Zunächst bestimmen wir auf einer Timeline die Initial-Situation für den Alkohol-Abusus – er erlebt diese Situation weniger visuell als vielmehr bedeutend kinästhetisch. Entsprechendes Hinzufügen der „notwendigen“ Ressourcen lassen ihn dann entspannt auf der Timeline in seine Zukunft gehen.

Herr X erarbeitet die Vor- und Nachteile des Alkoholkonsums sowie der Abstinenz (Vierfelder- Matrix) und wir skalieren die Stärke des Wunsches nach einem alkoholfreien Leben (8 auf der 10-stufigen Likert-Skala) und die Zuversicht (ebenfalls 8). Auch die Vorteile und der Gewinn aus diesem neuen Leben werden in einer Stunde herauskristallisiert sowie Versuchungsmomente und Reaktionsweisen darauf schriftlich (!) festgehalten. Ebenfalls erstellen wir einen Notfall- Plan für potenzielle Vorfälle. Im Anschluss induziere ich dann eine Ziel-Erreichungs- Phantasie (As-If-Format).

Diese Imagination reichere ich noch mit einer wiederholten 60-minütigen Hypnose an, in der alle Ressourcen und wichtige Elemente verdichtet werden. Im Anschluss gebe ich ihm zwei (leere) DVDs mit Aufschrift und Datum versehen sowie meiner Anmerkung, dass die erste DVD (Datum Geburt bis Datum „jetzt“) seine persönliche Chronik im Film bis „heute“ sei und er die zweite DVD von nun an neu „bespielen“ könne. Ich habe schon vorher bemerkt, dass konkrete Mitgaben einen äußerst nachhaltigen Effekt bei ihm haben, an denen er sich „festhalten“ kann.

In einer neueren Begegnung besprechen wir die Gestaltung des letzten Tages vor seinem neuen Leben in allen Einzelheiten, besprechen auch Belohnungseinheiten (Belohnungskorb) und entlastende Ersatzhandlungen und üben die „Stopp-Gedanken- Technik“ für das „Kreisen“ um das Alkoholthema ein. Wir thematisieren den Umgang mit heftigen Gefühlszuständen und „Versuchungen“ durch Andere (sozialer Druck/ Feiern). Weiter halten wir Ausschau nach mehreren „Verbündeten“ auf dem neuen Weg. Auch eine längere Arbeit mit den Submodalitäten wird die innere Festigung zusätzlich flankieren. Darüber hinaus gehe ich mit ihm auf eine innere Reise zu seinem immaginierten renovierungsbedürftigen Haus, auf der er selber erleben kann, was er wie renovieren muss, möchte und darf.

In einer weiteren Stunde gehen wir auf eine längere innere Reise zu den Zellen, die verantwortlich für das Gelingen des Plans sind. Wir schauen uns die starken, von „Alkohol freien“ Zellen an und lassen sie diese Information an alle weiteren involvierten Zellen übertragen. Wir ergänzen diese Erfahrung mit einer weiteren Übung aus dem Embodyment: Erstarkung und Stärkung – hier: „Befreiung“, damit wir auch körperlich diese Befreiung abspeichern können.

Als der Tag „Y“ dann gekommen ist, begraben wir auf einem „persönlichen Friedhof“ das Alkohol-Leiden in einer feierlichen Zeremonie. Herr X hat einen Brief in einer Alkohol-Flasche verschlossen, die er in einem Ritual vergräbt.

Dieses Begräbnis ist nun gut 12 Monate her. In dieser Zeit gab es keinen Vor- oder Rückfall. Obwohl ich mich als SOS-Notruf angeboten habe, werde ich in keiner Extremsituation angerufen. Wir hatten lediglich zwischenzeitlich sporadisch Kontakt, in dem ich mir sein Wohlergehen bestätigen ließ.

Zusammenfassend möchte ich verdeutlichen, dass ich es aufgrund meines Vorbildes (trockener Alkoholiker) sicherlich hinsichtlich der Compliance etwas leichter mit Zugang und Bearbeitung des Themas als andere Begleiter habe. Die gesamte Dauer des Prozesses erstreckte sich auf 7 Monate mit eine Frequenz von 2 Treffen im Monat, in denen wir immer wieder auch über zentrale Glaubenssätze und Metaprogramme gesprochen haben. Natürlich habe ich auch die „Wunderfrage“ gestellt.

2010-01-Alkohol3Frank Gerit Kaiser
Dipl.-Oec. NLP-Master, Coach, Psychologischer Berater
Praxis für Persönlichkeits- und Gesundheits- Coaching
Mohnblumenstraße 21, 58640 Iserlohn, Telefon 0 23 71/ 46 19 61
www.praxis-gesundheitscoaching.de


Glossar (siehe auch NLPedia und Wikipedia)

As-If-Format: Simulieren von Ereignissen bzw. Induzieren eines Erlebnis-Zustandes verbunden mit der Fähigkeit, so zu denken und handeln, als ob die Ereignisse wahr bzw. eingetroffen wären

Embodyment: Nicht nur psychische Zustände drücken sich im Körper aus (Gestik, Mimik, Körperhaltung), es zeigen sich auch Wirkungen in umgekehrter Richtung: Körperzustände beeinflussen psychische Zustände. Beispielsweise haben Körperhaltungen, die aus irgendeinem Grund eingenommen werden, Auswirkungen auf Kognition (z.B. Urteile, Einstellungen) und Emotionalität – insofern ist auch eine Arbeit aus dieser Richtung zielführend.

Glaubenssätze: Annahmen über die Wirklichkeit – Interpretation und Verallgemeinerung früherer Erfahrungen oder übernommene Meinung anderer. Glaubenssätze sind Grundlage unseres alltäglichen Handelns und bestimmen, was wir denken und wahrnehmen bzw. was wir uns erlauben zu denken und wahrzunehmen, was wir für möglich halten. Glaubenssätze sind ein inneres Abbild der Wirklichkeit.

Meta-Programm: Die sozialen und individuellen Filter, nach der wir „Umwelt“ kategorisieren, einteilen und bewerten.

Moment of Excellence: Augenblick mit vollem Zugang zu den Ressourcen, der zum späteren Abruf induziert und geankert wird.

Reframing: meint den Prozess des Umdeutens, des Einnehmens einer neuen Perspektive, einer neuen Art der Wahrnehmung und einer neuen Interpretation eines Zustandes bzw. Begebenheit.

Seelentank: Die „postiven“ gewünschten Gefühle werden in einem „Tank“ zusammengetragen und anschließend die Aktivitäten, Haltungen und Ausrichtungen ermittelt, die diese gewünschten Gefühle auslösen, sodass bei Bedarf die Gefühle duch die aktivität indiziert werden können.

Skalierung: Skalierungen dienen der Verdeutlichung von Unterschieden und besonders auch zur Illustration von Relationen.

Gedankenstopp-Technik: Mit dieser Hilfe wird das Grübeln und „Kreisen“ um ein Thema/Problem unterbrochen und werden somit unfruchtbare „Lösungs-und Suchprozesse“ gestoppt.

Submodalitätenarbeit: sind Unterkategorien der Sinne, Bestandteile einer Wahrnehmung, z.B. sind Helligkeit, Farbe, Bildschärfe ... Submodalitäten visueller Wahrnehmung. Sie können in „angemessenere“, geeignetere Formen verändert (moduliert) werden.

Symptom-Begräbnis: eine Möglichkeit des Dissoziierens, Lösens und Abstandgewinnens („Äußern“)

Timeline: Die persönliche „Zeit-Linie“ (Entwicklungslinie) wird imaginiert und anschließend duchwandert, überschritten oder darüber geschwebt – Initial- Erlebnisse und -Personen können auftauchen und dann „bearbeitet“ werden; mit dem veränderten Erleben wird der persönliche Weg neu „begangen“.

Vierfelder-Matrix: Alle Optionen und Aspekte eines Themas/Symptoms werden in Bezug das Beibehalten sowie das davon Trennen in den Vor- und Nachteilen zusammengetragen (somit werden auch Vorteile des Problems wie z.B. Sekundargewinn besser erkennbar).

Wunderfrage: eine von Steve de Shazer kreierte Technik, die die Ressourcen, Haltungen und Zustände der Problemlösung induziert/verankert.