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Anpassungsstörung im Kindes- und Jugendalter – eine differenzielle Betrachtung

Der fünfeinhalbjährige Patient Max (Name geändert) stellt sich in Begleitung seiner Eltern in meiner psychotherapeutischen Praxis vor. Die Eltern berichten, dass Max unter Wutausbrü- chen leide und zeitweise teilnahmslos wirke. Darüber hinaus werden Schwierigkeiten bei der Sauberkeitserziehung beschrieben. Seit einem Autounfall, in den die ganze Familie involviert gewesen ist, kote Max tagsüber wieder ein. Er leide auch unter Verstopfung und schmerzhaftem Stuhlgang, klage häufiger über Bauchschmerzen. Max weigere sich, auf die Toilette zu gehen, und vermeide regelrecht den Stuhlgang. Weiterhin sei er häufig unkonzentriert, verträumt und vergesse vieles. Das Regelverhalten wird von seinen Eltern als eingeschränkt beschrieben, Max neige häufiger zu impulsiven Wutausbrüchen und schlage teils grundlos zu. Die Eltern fühlten sich in der Erziehung deutlich überfordert. Sie wirken im Erstgespräch sehr angespannt, Max jedoch zeigt sich freundlich und zugewandt, exploriert den Behandlungsraum und nimmt Kontakt auf.

Anamnese

Die Schwangerschaft wird als belastet beschrieben, da die Mutter unter erhöhtem Stress in der Schwangerschaft gelitten habe. Die Geburt sei spontan erfolgt und ohne Komplikationen verlaufen. Die frühkindliche Entwicklung beschreiben die Eltern als auffällig, Max sei ein Schreibaby gewesen, die Diagnose wurde jedoch erst im dritten Lebensjahr gestellt. Vorher habe es keine psychologische Abklärung gegeben. Neben den Regulationsschwierigkeiten nach der Geburt sei eine Zufütterung aufgrund einer Saugschwäche notwendig gewesen.

Das postpartale Befinden der Mutter sei ebenfalls auffällig gewesen, da sie unter einer depressiven Verstimmung gelitten habe. Die Meilensteine der frühkindlichen Entwicklung seien bezüglich motorischer und sprachlicher Entwicklung zeitgerecht erreicht worden, die Spracherziehung erfolgt von Geburt an mehrsprachig. Die Sauberkeitserziehung habe er bis zum Besuch der Praxis jedoch nicht vollständig erreicht. Weiterhin habe Max in den ersten drei Lebensjahren häufig unter Erkältung und Infekten gelitten. Der Kindergartenbesuch wird als schwierig beschrieben, er sei dort sehr impulsiv und zeige oppositionelles Verhalten. Er habe wenig Freunde und spiele gerne alleine mit Autos.

Familienanamnese

Max ist das jüngere zweier Kinder, wobei das Verhältnis zur älteren Schwester als schwierig und konfliktreich geschildert wird. Die Eltern beschreiben die Ehe als harmonisch. Die psychiatrische Anamnese der Eltern ist auffällig; die Mutter und das ältere Kind leiden unter einer depressiven Verstimmung und befinden sich selbst zum Zeitpunkt der Behandlung in psychotherapeutischer Behandlung.

Behandlungsprozedere, Behandlungsziele, Diagnostik

Zunächst habe ich im Sinne einer möglichst ganzheitlichen Sichtweise eine ausführliche Diagnostik mit Max sowie Fragebogen- und Interviewuntersuchung mit den Eltern und den Erziehern aus dem Kindergarten erhoben. Innerhalb einer testdiagnostischen Untersuchung mit Max zeigte sich eine reduzierte Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit.

Anhand der fremdanamnestischen Befragung ergaben sich bei den Eltern Auffälligkeiten im emotionalen Bereich, vor allem bei Ängsten. Vonseiten der Erzieher aus dem Kindergarten ergaben sich keine auffälligen Befunde. Aufgrund einer Befragung mittels Interviewverfahren mit Max und seinen Eltern habe ich eine posttraumatische Belastungsstörung ausgeschlossen.

Makroanalyse

Bezüglich der Entstehung der psychischen Erkrankung des Patienten ist von einer biologischen Vulnerabilität im Sinne des Vulnerabilitäts-Stressmodells (Mutter und Schwester leiden unter einer depressiven Erkrankung) und einhergehendem symptombezogenen Modellernen innerhalb von stressbelastenden Situationen auszugehen. Aufgrund des deutlich erhöhten Anspannungszustandes und Unruheerlebens ergeben sich Konditionierungsprozesse, die als aufrechterhaltende Faktoren anzuerkennen sind. Im Zusammenhang mit belastenden Umweltfaktoren (Autounfall und eine diagnostizierte zystische Fibrose) zeigt sich ein erneuter Anstieg der kindlich-depressiven Symptomatik. Die depressiven und impulsiven Verhaltensweisen sind dabei als defizitäre Handlungs- und Problemlösungsstrategien zu betrachten.

Anhand des störungsverstärkenden Erziehungsstils (Nachgeben in Konfliktsituationen, keine festen Regeln, deutliche Aufmerksamkeit gegenüber störungsspezifischem Verhalten; depressive Verstimmung) und der deutlichen psychischen Belastung der Mutter ergeben sich aufrechterhaltende Faktoren, die zu einer andauernden depressiven Symptomatik geführt haben. Aufgrund des reduzierten Kontrollerlebens und des defizitären Umgangs mit Emotionsregulationsstrategien treten die Ängste und das impulsive Verhalten als Bewältigungsversuche gegenüber dem geringen internen Kontrollerleben auf und verhindern gleichzeitig korrigierende Beziehungserfahrungen. Die Symptomatik der Ausscheidungsstörung ist aufgrund der organischen Erkrankung (zystische Fibrose) erklärbar, weshalb ich die Diagnose Enkopresis ausschloss. Daher habe ich den Fokus der Behandlung auf die Bearbeitung der emotionalen Schwierigkeiten gelegt.

Behandlungsziele

Gemeinsam mit Max und seinen Eltern wurden die Behandlungsziele zu Beginn der Psychotherapie ausführlich besprochen. Zunächst galt es für mich, Max auf altersadäquate Art über die Erkrankung der zystischen Fibrose aufzuklären und den Umgang mit der Erkrankung zu besprechen. Hierbei wurden vor allem spielerische Elemente und visualisierte Methoden hinzugezogen. Im Sinne einer gelungenen Zusammenarbeit und Behandlung lag für mich der Fokus auf dem Beziehungsaufbau und darin, selbstabwertende Stimuli und Selbstvorwürfe zu identifizieren. Weiterhin stellte ich ein Krankheitsmanagement auf (regelmäßiges Trinken, Umgang mit der Angst vor Schmerzen) und besprach stressreduzierende Maßnahmen mit den Eltern. Als weiteres Ziel wurden dabei die Ressourcenaktivierung und der Aufbau sozialer Kompetenzen zur Steigerung der sozialen Integration gesetzt.

Mit den Eltern wurde ein individuelles Störungsmodell besprochen und Wissen über die Anpassungsstörung bezüglich der Ätiologie, der Symptomatik und den vermutlichen Verlaufs vermittelt. Außerdem erfolgte eine ausführliche Psychoedukation bezüglich der zystischen Fibrose und des Umgangs mit der Erkrankung. Weiterhin wurden die Eltern in das Krankheitsmanagement des Patienten einbezogen. Weiteres Ziel war die Begleitung der Familie bei Arztbesuchen.

Um die innerfamiliären Spannungen zu reduzieren, wurde zur Verbesserung der innerfamiliären Interaktion ein Krisenplan für die Familie erstellt. Zum Ende der Therapie sollten eine Rückfallprophylaxe, die Stabilisierung der Therapieergebnisse und eine enge Zusammenarbeit mit den behandelnden Ärzten sowie den Erzieherinnen des Kindergartens folgen.

Behandlungsverlauf

Eine somatische Abklärung der Ausscheidungssymptomatik (die den Hinweis einer zystischen Fibrose ergab) setzte ich vor Beginn der Therapie als Voraussetzung an. Anhand der Eingangsuntersuchung und des auffälligen Befundes wurden eine regelmäßige ärztliche Kontrolle und die Verwendung eines geeigneten Medikaments bezüglich der chronischen Obstipation als Voraussetzung der ambulanten Behandlung festgelegt. Ich telefonierte hierzu und bezüglich des Behandlungsplans regelmä- ßig mit den behandelnden Ärzten der zuständigen Klinik aus dem Bereich Sozialpä- diatrie und der behandelnden Kinderärztin.

Nachdem ich eine ausführliche Anamnese und die Exploration störungsspezifischen Verhaltens erhoben hatte, erfolgte die altersgerechte Psychoedukation mit Max und seinen Bezugspersonen sowie damit einhergehend die Erarbeitung eines individuellen Störungsmodells inklusive altersadäquater Wissensvermittlung über die Anpassungsstörung mit vorwiegender Beeinträchtigung anderer Gefühle sowie der Enkopresis und Enuresis. Hinsichtlich der Anpassungsstörung mit vorwiegender Beeinträchtigung anderer Gefühle gestaltete ich Übungen zum Aufbau eines positiven Selbstwertgefühls und vermittelte die Aktivierung von Ressourcen (Wiedereinführung positiver Aktivitäten wie z. B. Fußballverein). Ich führte zu Beginn der Therapie einen Verstärkerplan für die Familie ein und besprach das Setzen altersadäquater Regeln. Des Weiteren wurde in Rollenspielen der Ausbau sozialer Kompetenzen beim Umgang mit Konflikten und die Regulation von Anspannungszuständen anhand von Fantasiereisen und spieltherapeutischen Elementen besprochen und geübt. Max hat die psychotherapeutischen Interventionen auch im Hinblick auf die Selbstwirksamkeitserfahrungen gut angenommen und zeigte sich motiviert und offen für Behandlungsansätze.

Hinsichtlich der Probleme mit der Ausscheidungssymptomatik wurden zunächst die Ess-, Trink- und Ausscheidungsgewohnheiten erfasst und der Kindergarten bezüglich unterstützender Maßnahmen kontaktiert. Dazu besuchte ich den Kindergarten, um das Verhalten des Patienten zu beobachten und aufrechterhaltende störungsspezifische Faktoren zu identifizieren. Die Erzieherinnen des Kindergartens waren bezüglich therapeutischer Interventionen sehr aufgeschlossen und unterstützten Max bezüglich der Ess-, Trink- und Ausscheidungsgewohnheiten.

Gemeinsam mit Max und seinen Eltern wurden die Themen Essverhalten, ausgewogene Ernährung und regelmäßige Toilettengänge (mit der Einführung von „Schickzeiten“) besprochen. In Zusammenarbeit mit der Kinderärztin wurde zusätzlich ein Medikament eingesetzt. Zum Entlassungszeitpunkt wurde von einer deutlichen Reduzierung der Ausscheidungssymptomatik unter regelmäßiger Medikamenteneinnahme berichtet. Max kotete und nässte zum Zeitpunkt der Beendigung der Therapie nicht mehr ein, auch die Stimmung zeigte sich deutlich aufgehellt und ausgeglichen.

Mit den Bezugspersonen fand im Rahmen von Elterngesprächen eine Psychoedukation statt; außerdem wurde für die Klärung des Therapierationals hinsichtlich der schwankenden Motivation seitens der Mutter die regelmäßige Teilnahme an den psychotherapeutischen Sitzungen mit dem Patienten besprochen. Weiterhin wurde aufgrund der elterlichen Belastung und vor dem Hintergrund der Psychopathologie der Mutter und der Schwester die Anbindung an Erziehungshilfen angesetzt und ein Familienbeistand zur Erziehungshilfe und Entlastung der Eltern empfohlen.

Fazit und Ausblick

Anhand dieses Falls zeigen sich die Notwendigkeit einer somatischen Abklärung vor dem Beginn der psychotherapeutischen Behandlung, die Wirkungszusammenhänge pränataler und frühkindlicher Entwicklungsfaktoren und die Bedeutsamkeit einer ganzheitlichen Betrachtungsweise sowie der interdisziplinären Zusammenarbeit. Die entwicklungsspezifischen Aspekte müssen in der Therapie berücksichtigt und in der Behandlung altersadäquat umgesetzt werden. Darüber hinaus ist eine gründliche Diagnostik zur Differenzierung psychischer und somatischer Beschwerden bedeutsam für die Behandlungsindikation und den Aufbau der Behandlung. Einen Fokus auf den Beziehungsaufbau mit den Patienten und deren Bezugspersonen zu setzen, ist für eine gelungene Behandlung gerade im Hinblick auf die Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen entscheidend für einen positiven Behandlungsverlauf.

Dr. Mona Lange-von Szczutowski
approbierte Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Verhaltenstherapeutin, Schwerpunkt psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter, Vertiefung in Psychotraumatologie, private Praxis in Frankfurt am Main
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Fotos: ©Iconogenic