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Erfordernisse psychotherapeutischer Erstversorgung für Kinder und Jugendliche nach dem plötzlichen Tod eines Elternteils

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Nach dem plötzlichen und völlig unvorhersehbaren Tod meines Mannes und Vaters meiner drei Kinder im Jahr 2003 musste ich feststellen, dass es für halboder vollverwaiste Kinder und Jugendliche keinerlei Anlaufstelle gab, an die sich diese in ihrer Trauer hätten wenden können.

fotolia©JPagetRFphotosNicht einmal das omnipräsente Internet bot zu diesem Zeitpunkt tragfähige Unterstützung und fachliche Beratung an, was ich als absolutes Defizit empfand. Es bestand aus meiner Sicht dringlichster Handlungsbedarf und darum habe ich mit eigenen Mitteln im Frühjahr 2004 das Internetforum www.halbwaisen.de gegründet.

Seitdem fand im Kontext meines Forums viel Austausch statt und viele Halbwaisen begrüßten die Möglichkeit, miteinander in Kontakt treten zu können, sich gegenseitig zu ermutigen und auch besonders das Gefühl, nicht alleine in dieser Ausnahmesituation zu stecken.

Im Jahr 2009 setzte ich mich aufgrund einer Zeitungsannonce erstmalig mit Marion Göwert in Verbindung, die in Osnabrück 2010 das „Trauerland“ eröffnet hatte, eine Einrichtung in Trägerschaft der Diakonie und ein Ableger des Vereins „Spes Viva“ in Bremen.

In Trauerland finden Kinder und Jugendliche, die vom Tod eines Elternteils betroffen sind, eine erste Anlaufstelle, Kontakte zu anderen betroffenen Kindern und Jugendlichen, ein umfangreiches Beschäftigungsangebot im schönen Haus der Einrichtung sowie Betreuung im Rahmen von Gesprächsgruppen durch vom Verein „Spes Viva“ ausgebildete ehrenamtliche Kräfte. Das Angebot für Halbwaisen findet alle 14 Tage statt und hilft zumindest – sofern erforderlich – die Wartezeit auf einen Platz beim Kinderund Jugendtherapeuten zu überbrücken. Doch nun zum eigentlichen Ansinnen meines Artikels, zu einem leider im Frühjahr immer wieder sehr aktuellen Thema ...

Die Sonne lacht, Krokusse und Maiglöckchen blühen, laue Lüfte wehen ... der Frühling lässt wieder einmal sein himmelblaues Band flattern und vertreibt Stubenhocker und Couch-Potatoes aus den Fernsehsesseln und vom Computer. Outdoor- Aktivitäten machen wieder Spaß und bald jeden passionierten Biker juckt es in den Fingern, sein geliebtes Zweirad aus dem Winterschlaf zu wecken und die ersten Runden in der Frühlingssonne zu drehen. Es bedingt schon ein einmaliges Gefühl von Freiheit und Lebensfreude, die vielen grauen Wintermonate und den oft tristen Alltag hinter sich zu lassen und einfach nur draufloszufahren. Gerade in unserer Region, in Niedersachsen, gibt es außerordentlich viele herrlich schmale Straßen, die durch idyllische Landschaften führen, bergauf und bergab, rechts und links in die Kurve. Manche Kurven allerdings sind für Auto- und Motorradfahrer kaum einsehbar, und hinter dem Scheitelpunkt mancher Steigung erscheint zu oft wie aus dem Nichts ein anderer Verkehrsteilnehmer. Das Tempo in der Kurve unterschätzt, Abstände falsch eingeordnet, ein PKW hat die Vorfahrt geschnitten ... an bestimmten Stellen häufen sich Zusammenstöße zwischen Motorrad- und Autofahrern und auch ich sehe immer mal wieder an besonders idyllischen und kurvigen Straßenabschnitten verunglückte Motorräder liegen. Fast jeder Motorradfahrer hat schon selbst die eine oder andere kritische Situation erlebt und es ist sehr sinnvoll, sich bereits im Vorfeld zu wappnen.

Dazu zählt nicht nur die technische Wartung der Maschine – denn was noch im Herbst straßensicher war, muss es im Frühjahr nicht unbedingt mehr sein. Dazu gehört auch die kritische Einschätzung der eigenen fahrerspezifischen Fähig- und Fertigkeiten. Nach einem halben Jahr der Fahrabstinenz kommt der Biker aus der Übung vergleichbar mit dem Skifahrer über den Sommer ...

Ein langsamer Wiedereinstieg und anfänglich bewusstes, auf Sicherheit ausgerichtetes Fahren sind Voraussetzungen für einen unfallfreien Start in die neue Motorradsaison.

Für Nachwuchsbiker und Gelegenheitsfahrer bieten sich auch Fahrertrainingsprogramme der Verkehrswacht und der Landkreise an, die zumeist von speziell ausgebildeten Sicherheitstrainern durchgeführt werden und neben Pylonenparcours, Ausweichmanövern auch Kurvenschräglagen in Serpentinen, Gefahrenbremsungen und viele andere sinnvolle Übungen beinhalten. Tipps von anderen Teilnehmern, unter denen auch „alte Hasen“ sind, werden natürlich kostenlos dazugegeben, was für manchen Anfänger Gold wert sein kann. Ebenso, dass die Trainings für junge Fahrer bis 21 von den Landkreisen mit 50 % bezuschusst werden.

Mein Appell an alle Motorradfahrer – ob erfahren oder nicht – lautet: „Riskiert nicht unnötig euer Leben und denkt an eure Angehörigen.“

Seit ich im Frühjahr 2004 mein Internetportal halbwaisen.de ins Leben rief, bemerke ich im Frühling eine Häufung an Einträgen oder auch E-Mail-Anfragen von Freunden oder Angehörigen tödlich verunglückter Motorradfahrer und natürlich auch Motorradfahrerinnen. Viele dieser Einträge und Anfragen weisen Gemeinsamkeiten auf. Der Schock und die Trauer sind für Freunde und Verwandte von Verkehrsunfallopfern zuerst einmal grenzenlos. Gerade noch hat man seinen geliebten Angehörigen verabschiedet, hat zuvor mit ihm gefrühstückt, ihm gegenübergesessen oder miteinander telefoniert, buchstäblich aus heiterem Himmel erfährt man, dass alles vorbei ist, ein Verkehrsunfall sein Leben gekostet hat und jede Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft, auf die Erfüllung gemeinsamer Pläne, Ziele und Wünsche endgültig zerstört ist.

Alles geht so – im wahrsten Sinne des Wortes – unglaublich schnell, dass das rationale Bewusstsein „hinterherhinkt“, die psychische Anforderung an die Angehörigen ist enorm, sich auf die veränderten Bedingungen einzustellen und gleichzeitig ein einigermaßen „normales“ Leben weiterzuführen. Wo gestern noch Vertrautheit war und Zärtlichkeit, liebevoller Vater oder hingebungsvolle Mutter, geht es plötzlich – wenige Tage später – um die Themen Bestattungsinstitut, Aufbahrung, Friedhof, Beerdigung etc.

In den Forenbeiträgen vieler betroffener Kinder und Jugendlicher ist mir immer wieder ein gewisser Realitätsverlust aufgefallen, wie auch Anzeichen einer Depersonalisation, bedingt durch die umbruchartige Änderung der Lebenssituation ohne Vorwarnung und ohne Übergangszeit.

Der unerwartete Todesfall eines relativ jungen Familienmitglieds ist sehr viel schwerer zu verarbeiten und zu verstehen als ein Todesfall, der z. B. auf lange Krankheit folgt oder den Großvater bzw. die Großmutter betrifft. Viele Halbwaisen – insbesondere die jüngeren unter ihnen – verfügen aufgrund ihres Alters noch nicht über die Voraussetzungen eines wie auch immer gearteten rationalen Situationsverständnisses, und so wird der Todesfall von vielen Halbwaisen als „irgendwie irreal“ erlebt, was begründet werden kann mit einer emotionalen Synthese aus Schock und Verdrängung. „Ich stehe neben mir“ oder „Ich kann es immer noch nicht glauben“ sind zwei häufige Aussagen von Halbwaisen in meinem Forum, ebenso wie: „Wenn meine Mum nicht so trauern würde, könnte ich gar nicht glauben, dass mein Vater nicht mehr wiederkommt“.

In der Regel wird für psychologisch ausgebildete Fachleute bereits an dieser Stelle ersichtlich, dass das tatsächliche Erleben betroffener Halbwaisen häufig von den psychologisch bekannten Stufen des Trauerprozesses (Trauerverarbeitungsmodelle) abweicht und psychotherapeutische Begleitung oder Behandlung unabdingbar erscheinen.

Ich selbst habe im Verlauf der Beiträge einiger jugendlicher Forenteilnehmer u. a. eindeutige Anzeichen einer Depression erkannt, die sich durch Symptome wie Teilnahmslosigkeit, Schlafstörungen, ständige Müdigkeit, Abbruch sozialer Beziehungen oder sogar – besonders deutlich – als Suizidgedanken bemerkbar machte. Solch eine reaktive Depression sollte als Ausdruck einer posttraumatischen Belastungsstörung verstanden werden und bedarf in jedem Falle umgehender psychotherapeutischer Betreuung und Behandlung.

Der ICD10 in der WHO-Version 2011 benennt zahlreiche psychische Störungen, die aus Belastungssituationen und Schockzuständen nach plötzlichen Todesfällen resultieren können, wie z. B. Belastungsstörungen, Anpassungsstörungen, Traumatische Neurosen (F43.1-F43.8), Depersonalisations- und Derealisationssyndrome (F48.1).

So beschreibt der ICD10 die posttraumatische Belastungsstörung (F43.1) und deren vielfältige Folgen als einen schwerwiegenden psychischen Krankheitszustand:

„Posttraumatische Belastungsstörung“.

Diese entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.

Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Alpträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten. Der Beginn folgt dem Trauma mit einer Latenz, die wenige Wochen bis Monate dauern kann. Der Verlauf ist wechselhaft, in der Mehrzahl der Fälle kann jedoch eine Heilung erwartet werden.

In wenigen Fällen nimmt die Störung über viele Jahre einen chronischen Verlauf und geht dann in eine andauernde Persönlichkeitsänderung (F62.0) über.

Man kann sich unschwer vorstellen, dass eine posttraumatische Belastungsstörung unbehandelt in den seltensten Fällen von alleine verschwindet. Im Gegenteil, sie kann sogar persistierende gravierende Auswirkungen auf die Gesamtpersönlichkeit haben. Diese befindet sich bei Kindern und Jugendlichen noch in Entwicklungsprozessen und ist – allein schon deswegen – kaum ausreichend gefestigt, um sich unter Auswirkungen solch erheblicher psychischen Belastungen selbst zu regulieren.

Darum ist m. E. nach jedem elterlichen Todesfall – auch ohne vorherige Differenzialdiagnose einer psychischen Erkrankung – unverzügliche psychologische Hilfe indiziert, und sei es auch nur, um als eine Art von „Psychoprophylaxe“ schwereres psychisches Leiden zu vermeiden.

Doch leider kennen wir Fachleute nur zu gut die momentane Situation auf dem Gebiet der psychologischen bzw. psychosozialen Versorgung von bereits psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen, insbesondere, dass die Wartezeiten außerordentlich lang und der Weg der Bewilligung über die Krankenkassen – evtl. im Erstattungsverfahren – umständlich und zeitraubend ist.

Gerade im Bereich der Kinder-und Jugendlichen- Psychotherapie sind Wartezeiten von bis zu einem halben Jahr durchaus üblich, in abgelegeneren Regionen stellt sich die Gesamtsituation noch prekärer dar. Doch liegt es auf der Hand, dass Kinder und Jugendliche (u. U. mit einer posttraumatischen Belastungsdepression) nicht ein halbes Jahr lang unbehandelt bleiben oder bloß provisorisch vom Psychiater oder Neurologen mit Schlaftabletten oder Antidepressiva eingedeckt werden sollten.

Darum drängt es mich, auf dem Weg über diese Veröffentlichung im psychologischen Bereich tätige Kollegen und Kolleginnen zu ermutigen, mich dabei zu unterstützen, ein Erste-Hilfe-Netzwerk für halbverwaiste Kinder und Jugendliche aufzubauen.

Das Internetforum halbwaisen.de könnte eine Möglichkeit darstellen, schnellen Kontakt zwischen den im Forum angemeldeten Halbwaisen und den niedergelassenen Therapeuten zu knüpfen, und dies wäre sicherlich eine sehr sinnvolle Ergänzung des bestehenden Hilfsangebotes. Besonders begrüßenswert wären in diesem Kontext speziell auf traumatisierte Kinder und Jugendliche zugeschnittene Angebote, wie z. B. kostenlose Erstgespräche, Entspannungsübungen, energetische Heilmassagen, Reiki, Trauerbegleitung, besonders für die jüngeren auch Maltherapie, bei entsprechender Indikation kann auch eine homöopathische Behandlung sehr sinnvoll sein.

Liebe Kollegen und Kolleginnen, bringen Sie Ihre Erfahrung ein, Ihre Herzenswärme und Ihr Mitgefühl, denn jedes Hilfsangebot zählt.

Senden Sie einfach eine E-Mail an die Adresse Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein., wir veröffentlichen Ihr Angebot umgehend in unserem Internetportal.

Lassen Sie uns gemeinsam einen Versorgungsmissstand mildern, der auf dem Rücken von Kindern und jungen Erwachsenen ausgetragen wird.

Marion Sterz-König Marion Sterz-König
Jahrgang1964, Diplom-Psychologin, tätig im Rahmen einer Praxisgemeinschaft mit einem Facharzt für Psychiatrie und Neurologie in Osnabrück als freie Psychotherapeutin mit der Erlaubnis zur Ausübung der Heilkunde auf dem Gebiet der Psychotherapie (Kleiner HP). Die Behandlungsschwerpunkte sind Gesprächstherapie, VIT (Verhaltensbasierte Interventions- Therapie, ähnlich VT) und Trauerbegleitung im Setting von Einzel-, Paar- und Familientherapie. Außerdem arbeitet sie begleitend mit energetischen Heilmethoden.