Skip to main content

Die verwundete Heilerin – die Kraft aus den Wunden

Kürzlich erhielt ich ein sehr zugeneigtes Schreiben eines Kollegen, der meinen Artikel „Dornröschen wird wach geküsst ...“ in der „Freien Psychotherapie, 03.18“ als sehr gelungen empfand und sich in ihm wiederfinden konnte. Wir beide waren vom Leben durch schwere Krankheit „wach geküsst“ worden. Dieses Gefühl einte uns. Seine empathische Reaktion auf meine Empfindungen zu meiner „Wunde“ empfand ich als himmlischen Hauch an zärtlicher Inspiration und Liebe für mich und meine Situation. So konnte unser beider ungeschützte Offenheit uns gegenseitig sehr befruchten.

In seinen Zeilen befand sich auch eine Geschichte aus dem Johannesevangelium, in der Jesus als Heiler eines Blindgeborenen beschrieben wird. Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm ...

Meinem Kollegen half diese Geschichte, seinem Schicksal entgegenzutreten. Für ihn brauchte es diesen Jesus, der nicht nach Sünde und Schuld fragt, sondern sich mit allem, was er ist und hat, dem Schicksal des Blindgeborenen entgegenstellte und ihn heilte, damit an ihm Gottes Werk offenbar werden möge.

Mich berührt diese Vorstellung sehr, dass sich durch (meine) Krankheit Göttliches offenbaren möchte.

Tatsächlich sind mir einige Lichter erst durch meine Krankheit aufgegangen, wurde doch durch sie zuvor Unbewusstes ans Licht befördert. So möchte ich annehmen, dass ich auf diese Weise eine Art Geburtshilfe erfahre. Mir wird auf die Sprünge geholfen, indem ich mir auf die Schliche komme. Ich empfinde diese meine Lebenszeit mit der Krankheit als Phase der Integration, als Wiederherstellung der Einheit, als Vervollständigung.

Verhaltensweisen und Persönlichkeitsanteile, die ich vormals ausgespart hatte, können nun ihren Raum und Ausdruck finden. In diesem Sinne hat sich auch mein Wirken in der Praxis verändert. Ich bringe mich vollständig ein – so wie hier in meinen Texten.

Eine Heilerin braucht ebenfalls Heilungswege

Ich sehe meine ganz persönlichen (lichtund schmerzvollen) Häutungsprozesse als wichtiges Kapital in meiner Arbeit und gebe mich nicht der Annahme hin, die Heilerin, die Therapeutin – als Expertin des Lebens – dürfe keinerlei Schwäche noch Persönliches kundtun.

Ganz im Gegenteil empfinde ich meine eigene leidvolle, aber bewältigte Lebensgeschichte als eine Voraussetzung für wirksames therapeutisches Handeln. Sie ist sozusagen meine ganz persönliche Investition, die ich als Therapeutin einsetze.

Wie hier, während ich schreibe, empfinde ich auch die Beziehung von Therapeut und Klient als gemeinsame Reise. Ja, ich empfinde uns als Reisende auf einer gemeinsamen Entdeckungsreise. Selbstenthüllung ist eine wichtige Dimension auf dieser Reise. Auch für die Heilerin.

In der Psychologie bezeichnet Expertenwissen eine außergewöhnliche Problemlö- sungsfähigkeit. Diese Fähigkeit können wir nur erlangen, indem wir selbst betroffen sind, indem wir selbst, vor schwierige Situationen gestellt, zu einer Lösung finden, indem wir selbst eine Wandlung vollziehen.

Ein Mensch, dessen Herz nicht gewandelt ist, wird das Herz keines anderen verändern.

„ars requirit totum hominem.“
„Die Kunst erfordert
den ganzen Menschen.“
C. G. Jung

Das wussten bereits die Alchemisten im Mittelalter. Gemeint ist eben die Wandlung des Alchemisten selbst. In diesem Sinne hat meine Wunde Gutes vollbracht. Sie lehrt mich, mich noch besser kennenzulernen, mich zu erkennen – mit all den Aspekten meiner Persönlichkeit. Sie macht mich verstehen. Sie lässt mich mehr sehen. Und je mehr wir uns, die anderen, unsere Geschichte und die der Welt verstehen, umso seltener geraten wir in schmerzhafte Karambolagen.

„Verstehen ist das dicke Kissen gegen die Beulen des Lebens.“
Alain de Botton, Philosoph

Ich stimme ihm zu und schließe meine Worte an euch heute mit ein wenig Poesie aus meiner Feder.

fotolia©Butch

Beate KohlmeyerBeate Kohlmeyer
Heilpraktikerin für Psychotherapie, zertifizierte Psychologische Beraterin, Hannover

Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.