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Immer noch auf der Flucht? Die Kinder der Kriegskinder

2015 01 Flucht1

Interview mit der Berliner Systemischen Therapeutin Ingrid Meyer-Legrand von Gabriele Lorenz-Rogler

fotolia©Brigitte BohnhorstGabriele Lorenz-Rogler:
Seit einigen Jahren fordern die Kriegsenkel (35- bis 60plus-Jährige) verstärkt in der Öffentlichkeit die Anerkennung ihrer Leiden. Kann denn eine in Watte gepackte und in materieller Sicherheit aufgewachsene Generation psychische Folgeschäden des Zweiten Weltkrieges aufweisen?

Ingrid Meyer-Legrand:
Kriegsenkel sind in Frieden und Wohlstand aufgewachsen, erlebten aber Eltern, die in Kriegszeiten groß geworden und häufig traumatisiert worden sind. Dieses Leid wird in einer Art Kettenreaktion intergenerational weitergegeben. Eine typische Kriegsenkelbiografie beginnt mit dem schwierigen Aufwachsen der Eltern in den Zeiten von Bombennächten, Vergewaltigungen, Flucht und Vertreibung. Die Nachkommen wussten zwar oft nichts von diesen Erfahrungen, sie spürten aber die schwere Beeinträchtigung der Eltern und versuchten sie zu retten, übernahmen von Kindesbeinen an mehr Verantwortung, als sie verkraften konnten.

Gibt es tatsächlich diesen Zusammenhang für die heute längst erwachsenen Kriegskinder? Ist er wissenschaftlich gesichert? Sind es nicht eher menschliche Unzulänglichkeiten, mangelnde Reife und Belastbarkeit, die unter diesen angeblichen Kriegstraumata firmieren?

Die Auswirkungen des Krieges belasten auch die Nachkommen. Das bestätigen erste Forschungsergebnisse. Wir müssen uns das so vorstellen: Eine Strategie, die traumatischen Kriegserfahrungen zu überstehen, war es, die Gefühle völlig auszuschalten. Später gab es auch kaum Möglichkeiten, z. B. über therapeutische Hilfe, diese Erfahrungen zu verarbeiten. Die Gefühle blieben auch weiterhin abgespalten. Die Eltern spürten zwar nicht mehr ihren Schmerz, hatten aber auch keine Möglichkeit, die Bedürfnisse ihrer Kinder wahrzunehmen. Diese erlebten sie oftmals als emotional abgestumpft, leer und um sich selbst kreisend. Die seelische Verletztheit der Mütter und Väter erfasste so die gesamte Familie. Kinder brauchen jedoch Eltern, die sie emotional versorgen, die lebendig sind, nicht ängstlich oder erstarrt. In vielen Fällen wurde das Verhältnis zwischen den Eltern und ihren Kindern umgekehrt: Kinder wurden zu Eltern ihrer Eltern.

So wird also das Trauma weitergegeben?

Ja, die Kinder spürten intuitiv, dass da etwas schiefl ief, dass etwas mit ihren Eltern nicht stimmte. Sie haben unter einer beklemmenden Stimmung in der Familie gelitten und machten sich selbst häufig dafür verantwortlich. Sie dachten, mit ihnen selbst stimmte etwas nicht und fühlten sich daher „falsch“ oder „komisch“. Hinzu kommen oft Glaubenssätze der Eltern als Vermittlungswege von unverarbeitetem Leid.

Haben Sie ein Beispiel für so einen Glaubenssatz?

Ja: „Wer in der ersten Reihe steht, wird erschossen“. Das sagte ein Großvater zur Enkelin. Dieser Satz hat sich tief in ihre Seele eingebrannt. Als Erwachsene agierte sie in beruflicher Hinsicht eher ausweichend. Und für die Nachkommen der Flüchtlingskinder ist das Bedürfnis typisch, nur nicht aufzufallen. Für die Eltern war es durchaus sinnvoll, so zu denken – für die Nachkommen aber oft hinderlich.

Es kommt jemand zu Ihnen, Jahrgang 1965, gibt es typische Probleme?

Viele stehen beruflich auf der Bremse, fangen privat und beruflich immer wieder neu an. Andere arbeiten bis zur Erschöpfung oder sind unzufrieden, werden zwar gut bezahlt, haben aber das Gefühl, nicht im richtigen Job zu sein. Große Themen sind „Ruhelosigkeit“ und ein „Nicht-ankommen-Können“. Es gibt die große Sehnsucht, endlich seinen eigenen Platz in der Gesellschaft bzw. im Leben zu finden. Viele haben zunächst nicht ihre Interessen verfolgt, sondern die Aufträge der Eltern: der Sonnenschein der Familie zu sein, der Zugang zur Welt, die große Hoffnung auf ein besseres Leben. „Macht etwas aus eurem Leben. Wir konnten es nicht!“ Aus großer Loyalität zu den Eltern haben viele Kriegsenkel alles getan, um diese Aufträge zu erfüllen und haben mithilfe neuer gesellschaftlicher Möglichkeiten – Stichwort Bildungsreform – tatsächlich bemerkenswerte Karrieren „hingelegt“.

Wie sieht die Unterstützung Ihrer Klientinnen und Klienten konkret aus?

In der therapeutischen Arbeit und beim Coaching stelle ich einen Zusammenhang her zwischen der eigenen Geschichte und dem schwierigen Aufwachsen der Eltern. Für viele ist das überraschend und zugleich entlastend, weil sie ihre Probleme bis dahin als individuelle, innerseelische Konflikte eingestuft haben. Herausforderungen und Hindernisse bekommen eine neue Bedeutung als Ressourcen. Aus der frühen Rollenzuweisung, Eltern für ihre Eltern zu sein, erwachsen z. B. auch besondere Lebenskompetenzen hinsichtlich Selbstständigkeit und der Übernahme von Verantwortung in privaten, beruflichen oder auch gesellschaftlichen Kontexten. Das heißt, auch eine leidvolle Geschichte birgt große Ressourcen.

Ist das Novum, dass die Kriegsenkelgeneration erstmals Wahlmöglichkeiten hatte, verbunden mit überhöhten Ansprüchen an sich selbst?

Ja. Die Kriegsenkel sind in den 1970er und 1980er Jahren groß geworden nach dem Motto: „You want something, then go and get it“. Die Individualisierung der Gesellschaft barg und birgt neue Chancen – aber auch neue Risiken. Die Einzelnen sind ständig gefordert, sich neu zu erfinden. Das ist ein hoher und schwer einzulösender Anspruch, der viel Druck auf die Einzelnen ausübt. Den Kriegsenkeln wird eine reaktionäre Sehnsucht nach Heimat unterstellt. Das ist unzutreffend. Sie beschäftigen sich eher mit Wiedergutmachung, sind aktiv in der Friedensbewegung oder setzen sich für Flüchtlinge ein. Heimat ist nicht in dem Sinne ihr Thema, sondern die Sehnsucht nach „Beheimatung“, nach dem eigenen Platz im Leben bzw. in der Gesellschaft. Die Individualisierung der Gesellschaft geht mit einer gewissen „Unbehaustheit“ einher, die alle herausfordert. Die Kriegsenkel sind die ersten, die angehalten sind, sich permanent neu zu erfi nden, zu optimieren, immer und grenzenlos mobil und flexibel zu sein. Daher hadern sie oftmals mit ihrem Leben und bedauern ihre riskanten Lebensentwürfe. Daher kommt die große Sehnsucht nach Be-Heimatung.

Zusammenfassend kann ich sagen: Einerseits sind die Kriegsenkel geprägt vom Leid ihrer Eltern und den daraus entstandenen Herausforderungen, Aufträgen und davon diesen nicht genügt zu haben. Die Eltern wiederum haben den Kindern vorgemacht, wie man ein Leben aus dem Nichts aufbaut. Damit haben sie ihnen viele wertvolle Ressourcen zur Verfügung gestellt. Außerdem hat die offene Gesellschaft, die die Kriegsenkel vorfinden, ihnen zu einem ganz besonderen Lebensentwurf verholfen. In der therapeutischen Arbeit verbinde ich daher eine Mehrgenerationen- mit der aktuellen zeitgeschichtlichen Perspektive und Orientierung an den Ressourcen der Familienbiografie.

Über allem steht die Frage: Was haben Sie auf Ihrem besonderen Lebensweg gelernt?

Literatur

  • W. Kurth, H.J. Reiß, G. Egloff: Stop & Grow – eine ganz eigene Strategie der Kriegsenkel, positiv mit ihrem besonderen Erbe in einer in Gewinner und Verlierer gespaltenen Gesellschaft umzugehen? In: „Gespaltene Gesellschaft und die Zukunft von Kindheit“, Jahrbuch für psychohistorische Forschung Band 14, U. Langendorf, Heidelberg, Mattes Verlag, 2013, S. 159 bis S. 170
  • Immer noch auf der Flucht? – Die Kinder und Enkel der Kriegs- und Flüchtlingskinder: Das biografische Erbe erkennen und nutzen! In: Systemisches Arbeiten mit älteren Menschen. Konzepte und Praxis für Beratung und Psychotherapie, Heidelberg, Carl Auer Verlag, 2014, S. 125 bis S. 143

Ingrid Meyer-Legrand Ingrid Meyer-Legrand
Heilpraktikerin für Psychotherapie, Systemische Therapeutin, Coach, Supervisorin, Dipl.-Sozialarbeiterin, Praxis in Berlin

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Gabriele Lorenz-Rogler Gabriele Lorenz-Rogler
Biografin, Unternehmens-/Image-Porträts, Lektorin

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