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Über die Co-Abhängigkeit

Fast jeder hat schon mal eins von diesen Ehepaaren getroffen, die zahllosen Comics und Cartoons als Vorbild dienten: Der Mann, ein scheinbar gutmütiger Trottel, trinkt wegen seinem Ehestress "ab und zu" ein paar Bierchen zu viel, während seine Ehefrau, eine unangenehme Xanthippe, mit verkniffenem Gesicht ununterbrochen nörgelt und mit dem Nudelholz hinter der Türe steht. "Kein Wunder, wenn der arme Mann trinkt!", tuschelt das Umfeld. Bingo!

2004-03-Co-Abhngigkeit_1Schon ist das Umfeld den manipulativen Kontrollbemühungen des Alkoholikers, der so seinen Alkoholkonsum rechtfertigen kann, auf den Leim gegangen. Ein Mensch,
der trinkt, trinkt, weil er sich dafür entscheidet und nicht, weil irgendjemand schuld daran ist. Es gibt absolut keinen Grund sich zu betrinken, nur weil jemand anders
schlecht gelaunt ist. Doch gewitzte Süchtige schaffen es immer wieder, ihren Alkohol- oder Drogenkonsum als logische Konsequenz ihrer bedauernswerten Lebensgeschichte
zu verkaufen – und das co-abhängige Umfeld, das sich kaum die Mühe macht, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen, sieht das ein, erklärt sich solidarisch mit dem armen Opfer und spart nicht mit Schuldzuweisungen gegenüber der TäterIn.


Durch permanente Enttäuschungen zermürbt, hat Xanthippe vielleicht schon lange versucht, ihren Mann dazu zu bringen, sich wie ein Mann und nicht wie ein Waschlappen zu benehmen. Süchtige ersaufen nämlich nicht nur in Drogen oder Alkohol, sondern auch in Selbstmitleid. Die Uninformiertheit über die Erkrankung ihres Mannes hat sie dazu bewogen, seine Verantwortung mit zu tragen, seine Unzulänglichkeiten zu vertuschen, ihre eigene sexuelle Unzufriedenheit wegzuschieben (wer schläft schon gerne mit einem Waschlappen?) und sein Verhalten zu kontrollieren, womit wir bei typischen Erkennungsmerkmalen der Co-Abhängigkeit wären: die Konzentration auf die Beseitigung oder Verhinderung von Symptomen durch Kontrollzwang. Xanthippe tut alles, um ihren Mann am Trinken zu hindern und ihre Gedanken kreisen ständig darum, wie sie den Alkoholkonsum unterbinden kann, während seine Gedanken permanent darum kreisen, wie er sich den Alkohol beschaffen kann. Sie gibt die Hoffnung niemals auf, dass er eines Tages doch ein Einsehen haben wird und sie mit ihren Bemühungen Erfolg hat. Dass sie ihrem Mann gleichgültig ist, weil er dem Alkohol den Vorzug gibt, will sie gar nicht erkennen. Wie ein Hamster im Rädchen rennt sie weiter und befindet sich irgendwann ebenfalls in einer Suchtstruktur, denn sie kann das Kontrollieren nicht mehr lassen. Dummerweise wird ihr Mann immer pfiffiger. Je mehr Xanthippe kontrolliert, um so raffinierter werden seine Schleichwege. Xanthippe vernachlässigt ihre eigenen Interessen, weil sie ja das Trinken verhindern muss. So entspannt sie sich niemals und wird statt dessen zunehmend unmutiger. Sie ist ärgerlich und voller Ressentiments, weil "ihr die Zeit gestohlen wird", während die Welt nur den Kopf über sie schüttelt. Und wenn sie nicht an diesem Wahnsinn sterben, dann zirkeln sie bis in alle Ewigkeit weiter, hoffnungslos verkeilt in ihre kranke Verstrickung.

Co-Abhngigkeit2Das Wort Co-Abhängigkeit tauchte zum ersten Mal in den 60er-Jahren auf, als sich herausstellte, dass am Krankheitsgefüge eines Alkoholkranken eine ganzeGruppe von Menschen, vornehmlich die Familie, beteiligt ist, die eine Heilung erschweren, wenn nicht sogar unmöglich machen. Angefangen vom
Ehepartner, der den Alkoholismus nach außen vertuscht, aber nach innen krampfhaft versucht den Kranken am Trinken zu hindern, über die Eltern,
die immer wieder finanziell einspringen, um den drohenden Untergang zu verhindern, die Freunde, die bestätigen, dass man bei einer so schlecht
gelaunten Frau trinken muss, bis hin zu den Saufkumpanen, mit denen man über die schlechte Welt resümieren kann, und dem Wirt,
der seinen Umsatz sichern will – alle sind sie am Alkoholspiel indirekt beteiligt.


In den letzten Jahrzehnten hat die junge Disziplin der Psychologie zunehmend festgestellt, dass sich Co-Abhängigkeit nicht auf Alkoholismus oder Drogenabusus beschränkt, sondern sich im Umfeld eines jeden Kranken oder Verhaltensauffälligen finden lässt. In der direkten Umgebung von psychisch kranken Menschen ist ein gesundes Verhalten nicht möglich. Ein Extrembeispiel ist die Suizidalität, die immer dann gefährlich anwächst, wenn Menschen im Umfeld des Kranken sich anders verhalten, als seine/ihre Frustrationstoleranz es erlaubt. So zeigt sich oft, dass viele Suizide eine schwere Schuldzuweisung beinhaltet. Auch Selbstmord ist ein Mord – was vor lauter Bemühungen, die den Selbstmord unter allen Umständen verhindern sollen – leicht übersehen wird. (Selbst-)Mord lässt sich umso schwerer verhindern, je entschlossener der (Selbst-) Mörder ist!

Co-Abhngigkeit_3Die Angehörigen eines suizidalen Menschen werden früher oder später von der Angst vor der Katastrophe gesteuert und verändern unter dem Druck,
der einer Erpressung ähnelt, Stück für Stück ihr Verhalten. Sie versuchen unter allen Umständen, dem Kranken jegliche Frustration zu ersparen und es bildet
sich eine Sanatoriumsatmosphäre, die den Kranken immer weniger widerstandsfähig gegen negative Einflüsse von außen werden lässt. In dieser unheilvollen Struktur verlieren die Angehörigen ihre Fähigkeit, sich von dem Kranken unabhängig zu machen. Ihre Autonomiebestrebungen fördern sofort die Suizidalität,
d.h. sie werden mit dem drohenden Tod eines anderen Menschen bestraft, wenn sie ihre eigenen Wege gehen wollen. Solche Suizidsysteme erzeugen eine
enorme Strafangst in Bezug auf die eigenen Lebensentscheidungen. Nicht umsonst folgen auf den Selbstmord eines Menschen häufig weitere Selbstmorde
oder Selbstmordversuche im direkten Umfeld, was nicht zuletzt ein Akt der Selbstbestrafung ist, die von der co-abhängigen Denkweise: "Ich bin schuld,
weil ich es nicht verhindert habe" mit initiiert wird.


In systemischen Ansätzen, bei denen die Behandlung der gesamten Familie oder Lebensgruppe angestrebt wird, spricht man bei kranken Menschen vom "Symptomträger". Der Symptomträger ist derjenige, der beschlossen hat, auf unheile Strukturen im System mit der (manchmal sogar bewussten) Entscheidung für eine Erkrankung zu reagieren. Geprägt durch unsere bisherige Umgangsform mit dem Thema Krankheit erregt die Aussage, dass jeder Kranke sich, mehr oder weniger bewusst, für die Reaktion mit einer Krankheit entscheidet, leicht ärgerlichen Widerstand. Die These, dass Krankheiten ein argloses und ohnmächtiges Opfer willkürlich überfallen und dieses nun von einem Gott in Weiß mit geheimnisvollen bunten Kügelchen gesund gezaubert werden muss, ist noch mit dem alten Aberglauben verwandt, der einer noch sehr unbewussten und autoritätshörigen Gesellschaft im Mittelalter zueigen war. Dieser Aberglaube, der im Menschen das Gefühl der Ohnmacht fördert, hat durchaus seine positiven Seiten. Er ist nicht nur bequem, sondern gibt Angehörigen auch die Möglichkeit, als Retter dem hilflos Leidenden zur Seite zu eilen und durch die Zuwendungen Linderung zu spenden. Vor allem Frauen glauben, dass ihre Lebensmission im Heilen liegt und geben alles, was sie an Energie aufbringen können, um den "Armen" zu geben. Die Einsicht, dass einer Erkrankung eine Entscheidung vorausgeht, würde sie ihrer Mission berauben. Was dabei leicht übersehen wird ist, dass Heilung immer und ausschließlich vom Kranken ausgeht, denn ohne dessen Entscheidung für eine Heilung ist selbige schlichtweg nicht möglich. So gesehen hat noch niemals ein Mensch einen anderen geheilt – bestenfalls konnte eine bestimmte Information, die durch einen charismatischen Menschen emphatisch übermittelt wurde, den Kranken zu einer Neuentscheidung bewegen.

Dieses noch junge Wissen setzt sich jedoch erst langsam, unterstützt durch die Forschungen der Salutogenese, durch. Unterdessen ertrinken täglich tausende in ihrer Erschöpfung und einem Chaos, das ihnen jegliche Lebensfreude raubt. Diejenigen von ihnen, die den Weg in eine Selbsthilfegruppe oder eine gute Psychotherapie finden, lernen relativ bald "in Liebe loszulassen" bzw., wenn das nicht klappt, ohne Liebe loszulassen und aufzuhören, sich die Verantwortung für die Gesundheit oder das Leben eines anderen Menschen aufzuhalsen. Für viele ist es ein schwieriger Lernweg von der selbst verleugnenden Hilfe zur eigenen Lebensmeisterung, in der die Hilfsbereitschaft nur noch ein Nebenaspekt ist. Erschwert wird der Weg dadurch, dass viele Ärzte, Sozialarbeiter und Therapeuten selber co-abhängig sind und in Erschöpfungsdepressionen, Medikamentenabhängigkeit oder anderen psychischen Störungen, die psychiatrische Hilfe notwendig machen, enden.

Die gesunde Hilfsbereitschaft gehört zu den Tugenden der emotionalen Intelligenz und ist ein sozial hoch angesehener Wert. Um hilfsbereit sein zu können, werden im Ernstfall eigene Bedürfnisse nach Sicherheit, Bequemlichkeit oder sogar Überleben zurückgestellt und der Organismus setzt Energien frei, um für vermehrte Kraft und Beweglichkeit zu sorgen. Der Einsatz in besonders schwierigen oder gefährlichen Situationen wird sogar in der Zeitung erwähnt und verleiht den Heldenstatus. So wird ein großer sozialer Wertzuwachs vermittelt, was zunächst auch normal und wünschenswert ist. Diese "Notschaltung" des Organismus ist jedoch nicht für den Dauereinsatz geeignet, sondern nur für den Ausnahmezustand! Wer erlebt hat, was es bedeutet, über Jahre hinweg für einen oder mehrere Kranke da sein zu "müssen", der kennt die stumpfe Erschöpfung und das Gefühl, das eigene Chaos nicht mehr überblicken zu können. Er/Sie kennt die heimlichen Aggressionen gegen den Kranken und das ungute Gefühl, kontrolliert zu werden. Womit er auch völlig Recht hat. Chronisch kranke Menschen entscheiden sich chronisch dafür, auf ungeliebte Strukturen mit Krankheit zu reagieren – Bewusstmachungsprozessen setzen sie in vielen Fällen entschiedenen Widerstand entgegen. So läuft der Retter und starke Helfer plötzlich Gefahr, zum unfreien Sklaven der scheinbaren Notwendigkeit zu werden und nimmt Abstand davon, sein eigenes Leben zu leben.

Um bei der Dauerunterstützung eines anderen Menschen gesund zu bleiben, müsste man vermehrt auf die Zufuhr von Energie achten, d. h. mehr Urlaub, um immer wieder den Abstand zu den Kranken zu finden, ausreichend Geld, um die eigene Gesundheit zu pflegen und genügend Gelegenheiten, sich den eigenen Talenten und Interessen zu widmen. Die wiederkehrende Begegnung mit vor Gesundheit strotzenden, aktiven Pflegern könnte Kranke zum Lernen am Modell anregen. Abgesehen davon wäre eine ungute Verstrickung zwischen Pflegendem und Kranken nicht so leicht möglich... Utopia grüßt aus den Tiefen der Träume. Das Gegenteil ist natürlich der Fall. Um Geld zu sparen, das für wichtigere Dinge, wie die Unterstützung der Großkonzerne benötigt wird, verkauft man vor allem der weiblichen Öffentlichkeit die Hilfsbereitschaft als moralische Verpflichtung zum Dienst am Menschen. Die Helfende erhält als Lohn einen Selbstwertzuwachs in Form der Illusion des Wichtigseins und der Sicherheit, ihren guten Ruf zu wahren. Wer nämlich Angehörige in die professionellen Hände von Pflege- oder Altenheimen gibt, läuft Gefahr, als hartherzig und böse denunziert zu werden. Dass diese Vorgehensweise der Ausbeutung über moralische Verpflichtung jedoch nicht weit genug greift, beweist der Zusammenbruch unseres Gesundheitssystems.

Diese Strukturen könnten gelockert werden, wenn sich vor allem Frauen in großem Stil ihrer Lebensvisionen und deren Bedeutung für die gesellschaftliche Entwicklung bewusst werden. Es geht darum, die eigenen schöpferischen Fähigkeiten zu erkennen, die eigene Begeisterung zu entdecken und die eigene Entwicklung anzustreben. Wer sich selbst fördern kann, wird auch seinen Spaß daran haben, andere zu fördern und ihnen ein gewisses Maß an Wachstumschancen zumuten – einen größeren Gefallen kann man einem Kranken sicherlich kaum tun.

Selbstverständlich bleibt die Hilfsbereitschaft ein großer Wert, der wichtig für den sozialen Zusammenhalt ist. Um jedoch von der "Sucht gebraucht zu werden" verschont zu bleiben gilt es, den Wert der "Hilfe zur Selbsthilfe" zu erkennen. Die eigene Lebensvision ist ein ganz wesentlicher Beitrag zur Entwicklung der Menschheit und dieser sollte niemals daran scheitern, dass wieder jemand sein Selbst aufgibt. Je mehr wir das beherzigen, umso qualifizierter wird unsere Hilfe. Hilfreiche Unterstützung macht es sich zum Ziel, "überflüssig" zu werden, damit der eigene schöpferische Aspekt wieder zum Zuge kommt. Ein Mensch, der wirklich helfen kann, hat deswegen eine Perspektive im Auge, die greifen wird, wenn seine Hilfe nicht mehr benötigt wird. Diese Perspektive hat weniger mit dem Helfen zu tun als mit einem schöpferischen Akt. Es ist eben diese Perspektive, die der Co-Abhängige genauso wie der chronisch Kranke verloren hat. Verbunden durch diesen Mangel gibt das Leiden allen beiden einen Lebenssinn, um nicht zu sagen: das Leiden wird zum Ersatz für eine Lebensvision, über die nachzudenken man/frau sich nicht die Mühe gemacht oder sich sogar verboten hat.

Einen Selbsttest kann man starten, indem man innerhalb von einer Minute aufschreibt, was man mit seinem Leben tun würde, wenn man Milliardär wäre und sicher wüsste, dass nichts schief gehen kann. Wenn dabei die berühmte "Inselreife" herauskommt, ist eine Erholungspause dringend angezeigt, denn Faulheit auf Dauer hat noch niemanden wirklich glücklich gemacht.

Falls man diese Aufgabe gar nicht lösen kann, eignen sich die Übungen, die den eigenen Tod integrieren, um die Suche nach der Lebensvision zu beginnen:

  1. Die Vorstellung, man liege auf dem Sterbebett. Was möchte man alles erlebt haben? Wie sieht aus dieser Perspektive ein erfülltes Leben aus und was will man unter keinen Umständen versäumen? Welche Fähigkeiten hat man entwickelt und welches "Werk" hinterlässt man, wenn man geht?
  2. Angenommen, man hätte nur noch ein Jahr zu leben. Wie wird man dieses Jahr verbringen? Was will man in Ordnung bringen, was möchte man abschließen, was noch sehen oder erleben? Die Hartgesotteneren können sich fragen, wer ihnen garantiert, dass sie länger leben, als dieses eine Jahr und wie lange man noch glaubt, wesentliche Lebensentscheidungen in die Zukunft vertagen zu können.
  3. Das eigene Alter visionieren. Wie wird man sein mit 90? Was hat man erreicht, was macht einen glücklich? Schaut man auf ein erfülltes Leben zurück oder ist man krank und gebeugt von all den Dingen, die man nicht getan und erlebt hat?

Die Vorstellung, die wir uns von unserer Zukunft machen, ist die Grundvoraussetzung für eine eigenverantwortliche Lebensführung. Die Umsetzung der Träume in die Realität konfrontiert den Menschen dann mit all seinen Schwachstellen und setzt ihn/sie den Prüfungen aus, die immer wieder zu fragen scheinen: Willst du das wirklich? So wie ein anstrengender Aufstieg auf einen Berggipfel befriedigt, so fühlt sich auch derjenige lebendig, der nach einigen Schwierigkeiten sein Ziel erreicht hat. Eine unbearbeitete Co- Abhängigkeit kann bestenfalls demjenigen nutzen, der Anstrengungen verabscheut.

Also, lasst unsere Träume leben anstatt das Leben lang zu träumen.

 


Tina Wiegand
Psychotherapie · Hypnose · Imagination
Franz-Paul-Straße 12A
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