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Tödlicher Notstand - Wenn Kinder keine Therapie finden

Jeden Tag nimmt sich in Deutschland ein Kind, ein Jugendlicher das Leben. Manchmal ohne jede Vorwarnung. Einfach so. Manchmal aber gibt es Zeichen, dass etwas schief läuft und dann wäre Hilfe möglich. Dann könnte beispielsweise ein Therapeut das Schlimmste verhindern. Aber wie steht es mit der professionellen Hilfe für die Schwächsten in unserer Gesellschaft. Ulrich Neumann mit einer bedrückenden Bestandsaufnahme.

2004-03-Tdlicher_Notstand"Bitte haltet mich nicht auf. Mein Leben hat keinen Sinn mehr", schreibt ein zwölfjähriger Junge in seinem Abschiedsbrief. Seine letzte Bitte: Diese Musik bei seiner
Beerdigung zu spielen. "Without me" – "Ohne mich" – heißt dieser Titel.
Sie wurde gerade mal 17, als sie ihr Leben beendete. Letzte Zeilen von ihr:
"Ich bin frei von allem, was mich belastet hat. Und das ist viel."
"Ohne mich", jeden Tag verübt in Deutschland ein Kind oder ein Jugendlicher einen Suizid. Selbsttötungen sind damit die zweithäufigste Todesursache unter
jungen Menschen. Warum ist das so?
Viele kranke Kinder bekommen keine psychotherapeutische Hilfe, oft monate-, manchmal jahrelang.
Liane aus Nord-Württemberg, 16 Jahre. Wegen massiver Ängste hat sie sechs Monate in der Schule gefehlt, nicht mal das elterliche Wohnhaus verlassen. Die lange Wartezeit auf eine Therapie – eine einzige Qual:

Liane:
"Wenn man sich jetzt geistig ausmalen kann, was weiß ich, man besorgt sich ein paar Schachteln Schlaftabletten oder so etwas in der Richtung, das hat dann einfach so eine beruhigende Wirkung, dass man sich doch noch befreien kann aus der Lage!"

"Ohne mich": Wenn Jugendlichen in seelischer Not die professionelle Hilfe fehlt, droht die Katastrophe!

Haimo:
"Das Warten ist eigentlich eine ziemliche Geduldssache und wäre meine Mutter damals auch nicht so geduldig gewesen, dann hätte das alles vielleicht sogar schlimmer enden können."

Silke:
"Man hat das Gefühl, es kümmert sich keiner um einen, es interessiert keinen, wie es einem geht, und das macht es schon schlimmer. Dann denkt man sich einfach: Ja gut dann, es interessiert keinen, also wozu bleiben!"

Dr. Heinz-Jörg Dobler, Kinderarzt:
"Die kranken jungen Menschen warten oft mehr als ein halbes Jahr oder noch länger, damit ihnen überhaupt erstmal die erste Hilfe angedeihen kann. Der letzte Fall, den wir hatten, da war dringendste Hilfe notwendig. Antworten aller Therapeuten hier im Umkreis war: sechs Monate, neun Monate, zwölf Monate, maximal bis zwei Jahre Wartezeit."

Dr. Dobler betreibt seine psychotherapeutische Praxis in Nord-Württemberg. Seine kleinen Patienten sind ängstlich, magersüchtig, depressiv oder wurden kriminell. Auch hier gibt es monatelange Wartezeiten. Die Folge: Allein in den letzten zwei Jahren kamen 14 Kinder so spät in diese Praxis, dass die therapeutische Hilfe versagen musste.

"Das Ergebnis ist, dass wir sieben Kinder haben, die delinquent geworden sind. Das heißt: sie haben geklaut, sie haben gestohlen, sie haben randaliert. Sie sind in die Hände der Polizei gefallen. Fünf Kinder, und zwar insbesondere die jüngeren Kinder zwischen zehn und 14 Jahren, sind auf Drogen und das ist besonders erschreckend. Und zwei Kinder sind einfach verloren gegangen, – sie sind nicht mehr auffindbar."

Kinder, die verloren gehen, weil sie allein gelassen werden. Warum ist das so?

In Zusammenarbeit mit REPORT Mainz hat dieser Experte der Bundespsychotherapeutenkammer die Versorgung der seelisch kranken Kinder genau analysiert. Sein Ergebnis: Es fehlen Kinderpsychotherapeuten, denn pro Jahr kann ein Therapeut maximal 50 Kinder behandeln.

Peter Lehndorfer, Vorstand Bundespsychotherapeutenkammer:
"Nach meinen Berechnungen entfallen auf einen Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten in Deutschland circa 130 bis 140 kranke Kinder und Jugendliche. Dies bedeutet, dass circa 50 Prozent, mindestens 50 Prozent, der Kinder und Jugendlichen in Deutschland unbehandelt bleiben, weil sie keinen Behandlungsplatz finden können." Bundesweit herrscht also Therapienotstand.

Schlussfolgerung des Experten:
"Die Versorgungslage ist bundesweit nicht gewährleistet. Der gesetzliche Auftrag, die Behandlung von psychisch kranken Kindern und Jugendlichen sicherzustellen, wird bundesweit nach meiner Auffassung nirgendwo wirklich realisiert."

Sie sollen die Versorgung sicherstellen, die Kassenärztlichen Vereinigungen. So will es das Gesetz. Wie aber reagieren Kassenärztliche Vereinigungen zum Beispiel in Stuttgart und München auf diesen Therapienotstand?
Der bayerische KV-Vertreter bestätigt die katastrophale Unterversorgung.

Benedikt Waldherr, Vorstandsmitglied KV Bayern:
"Das ist eine stille Katastrophe, die sich am Praxistelefon tagtäglich abspielt. Patienten, gerade kleine Patienten, die Eltern der Patienten rufen an, und die Kollegen, die die ambulante Versorgung zu leisten haben, müssen leider auf Wartezeiten verweisen. Also muss die Lücke eigentlich im KV-System mittel- oder langfristig geschlossen werden."

Ganz anders sieht das dagegen die Kassenärztliche Vereinigung Nord-Württemberg.
Der zuständige Funktionär bestreitet den Therapienotstand. Über die Versorgung sagt er:

Dr. Klaus Baier, Vorstand KV Nord- Württemberg:
"Im Prinzip ist sie sichergestellt."
Schlimmer noch, er unterstellt den Patienten, sie seien nicht flexibel:
"Man muss dann schauen, dass man im Bedarfsfall eben auch mal einen anderen Therapeuten wählt und nicht den Wunschtherapeuten, den man sich gerade ausgeguckt hat."

Das Fatale ist nur: Es gibt hier weder Therapieplätze noch Wunschtherapeuten.

Deutlich wird das auch hier, an dieser Schule für Erziehungshilfe in Nord-Württemberg. Zwei Drittel der Kinder hier sind verhaltensauffällig. Der Rektor über ihre therapeutische Versorgung:

Walter Reile, Rektor Schule für Erziehungshilfe Fichtenau:
"Wir haben Wartezeiten von anderthalb Jahren, ein halbes Jahr ist Minimum, aber das kann bis zu anderthalb Jahren gehen. Für uns ein Riesenproblem und das ist eine Katastrophe für die Kinder."

Dr. Klaus Baier, Vorstand KV Nord- Württemberg:
"Es führt uns sicherlich nicht weiter, wenn wir berichten, dass eine Schule oder ein Schulleiter berichtet hat, dass er das entsprechende Kind dann nicht in dem entsprechenden Maße untergekriegt hat."

Ganz anders dagegen hat die KV in Bayern auf den Notstand reagiert. Sie hat gesetzliche Spielräume genutzt.

Benedikt Waldherr, Vorstandsmitglied KV Bayern:
"Wir haben insgesamt in Bayern etwa 320 zugelassene Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Und davon haben wir immerhin 73 per Sonderbedarfszulassung in den letzten Jahren praktisch zusätzlich ins System geholt. Und das war in verschiedener Hinsicht nicht einfach. Man muss da verschiedentlich Überzeugungsarbeit leisten." Von solcher Einsicht ihrer KV kann diese Kindertherapeutin in Nord-Württemberg nur träumen. Ihre Praxis, erst vor kurzem eröffnet, ist voll. Doch acht von zehn ihrer kleinen Patienten kann sie nicht abrechnen. Der Grund: Ihr fehlt die kassenärztliche Zulassung der KV Nord-Württemberg.

Ilse Schulenburg, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin:
"Ich war selbst persönlich dort in Stuttgart und die Kassenärztliche Vereinigung hat mir gesagt, dass seit zehn Jahren in unserem Kreis keine Neuzulassung mehr erfolgt ist und auch in den nächsten zehn Jahren keine Aussicht auf Erfolg besteht."

Wir lernen, ob Kindern in seelischer Not beigestanden wird, hängt vom Wohnsitz ab. Manche KV-Funktionäre vor Ort, so der böse Verdacht, haben vor allem eins im Auge: ihren schnöden Mammon.

Dr. Heinz-Jörg Dobler, Kinderarzt:
"Die Krankenkasse stellt einen Kuchen zur Verfügung. Und wenn statt fünf, sechs drin sind oder statt sechs, zehn drin sind, bleibt für den einen einfach weniger übrig. Und das ist mit ein Punkt, dass diese Zulassungen, diese Bedarfszulassungen, blockiert werden."

"Ohne mich". Schicksale von jungen Menschen werden womöglich durch Funktionäre entschieden, die vor allem eins wollen: den wenigen zugelassenen Therapeuten ihr Einkommen sichern.

Abmoderation Fritz Frey:
Das war REPORT aus Mainz ...



Sehr geehrte Damen und Herren,
als Präsident des "Verbandes Freier Psychotherapeuten und Psychologischer Berater e. V." bin ich Ihnen dankbar, dass Sie auf den schon lange bestehenden Missstand hingewiesen haben. Gleichzeitig darf ich Sie darauf aufmekrsam machen, dass in unseren Reihen etwa weitere 200 ausgebildete Kinder- und Jugendtherapeuten – verteilt über das gesamte Bundesgebiet – zur Verfügung stehen. Da diese KollegInnen jedoch keine Approbation nach dem Psychotherapeutengesetz, sondern eine Zulassung zur Psychotherapie nach dem Heilpraktikergesetz haben, bleiben sie aus dem System der gesetzlichen Krankenkassen gänzlich ausgeschlossen. Bis zur ersten sog. "Gesundheitsreform" von Minister Seehofer 1996 konnten unsere Patienten jedoch wenigstens im Nachhinein die Therapiehonorare von ihrer GKV erstattet bekommen. Jede weitere "Reform" auf diesem Gebiet hat allerdings die Versorgungslage für betroffene Kinder und Eltern noch weiter verschlechtert, so dass wir schon längst eine "Zwei-Klassen-Medizin" haben: Wer es sich leisten kann, findet als Privatzahler relativ schnell einen passenden Therapeuten. Das kann aber – wie Sie zu Recht in Ihrer Sendung betont haben – nicht die Lösung auf gesellschaftlicher und politischer Ebene sein! Über uns, unsere Mitglieder und unseren Verband finden Sie nähere Informationen am schnellsten unter:
www.freie-psychotherapeuten.de
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Werner Weishaupt
Präsident des VFP e.V.

Sehr geehrter Herr Dr. Weishaupt,
vielen Dank für Ihre Mail an "REPORT Mainz" zum Thema seelisch-kranke Kinder und Jugendliche. Im Zusammenhang mit diesem Film werden wir mit sehr vielen weiteren Missständen konfrontiert, u.a. den von Ihnen geschilderten. Wir müssen uns redaktionell noch genau überlegen, wie wir damit umgehen. Allerdings ist es in der Regel schwierig, zeitnah zum gleichen Thema einen weiteren Sendeplatz zu bekommen. Es ist eben unser Dilemma, dass wir nur alle drei Wochen senden.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Ulrich Neumann

 

REPORT Mainz –
Sendung vom 26.7.2004
Autor: Dr. Ulrich Neumann
Moderation: Fritz Frey