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Der Vater

26185139 Vater bse1„Es ist wie eine Hintergrundmusik.“

„Die immer da ist?“

„Ja, die Melodie ist die gleiche: Tu das nicht! Pass auf! Streng dich an! Das schaffst du nicht!“

„Woher kommen die Stimmen?“

„Ich höre die Worte von meinen Nachbarn und Freunden, obwohl die das nicht zu mir sagen.“

„Fühlen Sie sich durch die Worte entwertet?“

Er griff zur Taschentuchbox und nahm sich gleich zwei Taschentücher. „Ja, ich verste he das nicht. Die wollen mir nichts Böses. Es sind meine Freunde und Nachbarn.“

„Das wird unsere gemeinsame Aufgabe sein: Ihre Stimmen im Hintergrund auf leise zu schalten.“

„Am liebsten wäre es mir, wenn wir den Ausschaltknopf finden könnten. Damit ich sie nie wieder hören muss.“

„Wir werden gemeinsam daran arbeiten.“ Ich krempelte die Ärmel meines Hemdes hoch. Ich bat ihn, es mir gleichzutun.

„Das fühlt sich gut an. Packen wir es an“, sagte er und stand kraftvoll auf.


„Ihre Unterlagen sind wie immer durcheinander, Herr Stern!“

Meine Steuerberaterin war ein Mann. Nein, natürlich war sie eine Frau, aber es war ihr nicht mehr anzusehen, dass sie einst eine sanfte und schöne Frau gewesen ist. Das zarte Wesen war zum Fenster hinaus und ihre Schönheit lag Jahr für Jahr abgeheftet in ihren dicken Leitz-Ordnern.

„Ich werde mich bemühen ...“

„Das sagen Sie immer!“, unterbrach sie mich. „Es ist jedes Jahr das Gleiche mit Ihnen. Furchtbar!“ Wutentbrannt knallte sie meinen Ordner auf den Tisch, sodass meine mäßig einsortierten Blätter auf den Boden flogen.

Ich schaute demonstrativ auf meine Armbanduhr.

„Ich muss in die Praxis. Der nächste Patient kommt gleich.“

Ich stand auf und ließ sie mit den verstreuten Belegen und ihrer schlechten Laune zurück. Ich stieg in meinen Wagen und lächelte. Ich mochte sie. Hinter ihrer nach außen getragenen Ablehnung gegenüber Menschen steckte eine Wut, die sich hauptsächlich gegen männliche Klienten richtete, wie ich in den zwanzig Jahren, in denen ich ihr Mandant war, festgestellt hatte. Ich vermutete, dass ihre Wut ihrem Vater galt und sie sie auf alles, was männlich war, projizierte. Deswegen versuchte ich, ihren Wutanfällen mit Sanftmut zu begegnen. Was mir nicht immer gelang.


Ron Maas war ein Mann von etwa dreißig Jahren. Er hatte seine Beine elegant übereinandergeschlagen. Der dunkelblaue taillierte Maßanzug betonte seine sportliche Figur. Die Haare waren kurz, fast schwarz und mit viel Gel nach hinten gekämmt. „Was macht Ihre Hintergrundmusik?“, fragte ich und öffnete das Fenster. Es würde heute ein wundervoller Sommertag werden, freute ich mich.

„Die ist seit unserer letzten Stunde leiser geworden.“

„Sanfter?“, fragte ich erstaunt.

„Ja, im Grunde habe ich sie in der letzten Woche nur einmal gehört. Als mein Chef mich in sein Büro rief.“ Er rutschte in seinem Sessel hin und her. „Wir hatten unsere Jahresbesprechung.“

„Und?“

„Er hat mich gelobt.“

Er setzte sich auf die vorderste Kante des Sessels. Ich befürchtete, dass er abrutschen könnte, wenn er sich einen Millimeter weiter nach vorn bewegte.

„Er war zufrieden mit meinen Zahlen für das abgelaufene Jahr.“

„Gab es einen Bonus?“

„Einen beachtlichen. Doppelt so viel wie im letzten Jahr.“

„Ein Grund zum Feiern!“, rief ich.

„Nicht ganz“, sagte er resigniert und rutschte schlaff in dem Sessel nach hinten. „Eine Stimme in mir murmelte: Glaube deinem Chef nicht. Der sagt das nur so und meint es nicht ehrlich.“

„Trotz der Bonuszahlung?“

„Die hat er mir nur gezahlt, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen.“

„Warum?“

„Weil er mich bald entlassen wird.“

Ich schwieg.

Er schaute mir in die Augen und sagte traurig: „Ja, Sie haben recht. Was ich denke oder meine Stimme mir sagt, ist paradox. Warum sollte mein Chef mir eine Gratifikation zahlen und mich dann entlassen?“

„Passt nicht zusammen, oder?“

„Weiß ich. Mein Kopf realisiert, dass ich gute Arbeit mache und mein Chef mich lobt. Mein Gefühl sagt mir etwas anderes.“

„Was sagt Ihr Gefühl?“

„Dass ich es nicht wert bin, dass man mir sagt, wie gut ich bin.“

„Wer sagt das Ihrem Gefühl?“

„Die verdammte innere Stimme, die mich fertigmacht.“

Er tat mir leid und als er so traurig vor mir saß, stieg mein Beschützerinstinkt in mir auf. Wie ein Vater, der den Sohn beschützen möchte.

Als wir uns verabschiedeten, drückte ich fest seine Hand. In seinen Augen sah ich, dass er meine Warmherzigkeit ihm gegenüber spürte.


Ich joggte auf dem Alsterwanderweg und dachte über meinen Klienten Ron Maas nach. Eigentlich beschäftigte ich mich in der Freizeit nicht mit meinen Klienten, um abschalten und Kraft sammeln zu können, was mir oft gelang. Der Sommerwind trug mich über eine der schönsten Hamburger Laufstrecken. Ich fragte mich, warum ich über ihn in meiner Freizeit nachdenken musste. Er hatte den Vaterinstinkt in mir geweckt. Ich nahm mir vor, darauf zu achten, nicht in eine nachsichtige und gütige Vaterrolle zu rutschen, in der ich dann etwas übersehen würde, was in der Therapie von Bedeutung sein könnte. Ich lief schneller und alte Hamburger Villen, die links und rechts die Laufstrecke säumten, flogen an mir vorbei. In der nächsten Therapiestunde mit Ron Maas würde ich ein strenger Vater sein, um zu sehen, wie er darauf reagierte.

„Entschuldigen Sie bitte“, hechelte eine junge Frau und überholte mich schwer atmend.

Ich wollte dagegenhalten und lief hinter ihr her, um dann, pfeifend vor Anstrengung, neben ihr zu laufen.

„Sie sind ja in Form“, japste ich und sah in das schöne Gesicht einer etwa dreißigjährigen Frau.

„Ich trainiere für den Hamburg Marathon.“ Ihr eng gebundener Pferdeschwanz hüpfte hin und her, während sie lief und sprach. „Ich laufe täglich.“ Mich traf ein kurzer seitlicher Blick von ihr. „Sie trainieren nicht oft, oder?“

„Oh doch!“, sagte ich und versuchte, entrüstet zu klingen. „Ich laufe mindestens dreimal in der Woche.“

Sie lächelte. Schweißperlen rannen über ihr braun gebranntes Gesicht. „Sie haben den gleichen Laufstil wie mein alter Herr.“

„Ihr Vater?“

„Ja. Aber nun muss ich weiter. Ich darf heute noch arbeiten. Vielleicht bis bald“, sagte sie, schenkte mir ein mitleidiges Lächeln und zog uneinholbar an mir vorbei.

„Der gleiche Laufstil wie ihr Vater“, murmelte ich und spürte, dass ich gekränkt über die Bemerkung der unbekannten Joggerin war. Wollte sie sagen, ich sei alt und ein langsamer Läufer wie ihr Vater? Na toll, dachte ich, es ist so weit: Mein Alter lässt sich nicht mehr verheimlichen. Aber eine Stimme in mir beruhigte mich: Du bist körperlich und geistig fit. Ich vertraute meiner positiven inneren Stimme.


Ron Maas rutschte in seinem Sessel hin und her.

„Was beschäftigt Sie heute?“, fragte ich und wischte mit dem Handrücken imaginären Staub von dem Tisch, der zwischen dem Klienten und mir stand.

„Sie sind ein Opernfan?“

„Woher wissen Sie das?“

„Neben Ihrem CD-Spieler liegen Klassik-CDs. Für jeden sichtbar.“

Tatsächlich, dachte ich, als ich auf das Bord mit dem CD-Spieler sah. Mindestens zehn CD-Hüllen lagen teilweise geöffnet vor dem Gerät. Gut zu erkennen war das Cover einer CD von Pavarotti. „Aufmerksam“, sagte ich lächelnd.

„Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.“ Er kramte umständlich einen Briefumschlag aus seiner Jackentasche hervor. „Zwei Karten für die Oper Tosca am nächsten Samstag in der Elbphilharmonie.“ Er nahm zwei Karten aus dem Briefumschlag und gab sie mir.

„Oh, danke“, sagte ich.

„Keine Ursache.“ Ron Maas freute sich sichtlich, dass er mir eine Freude machen konnte.

„Leider kann ich die Karten nicht annehmen“, sagte ich und gab sie ihm zurück.

„Sind die Karten nicht gut genug für Sie?“, schrie er mich plötzlich an.

In diesem Moment war ich der ablehnende Vater für ihn und bekam dies sofort zu spüren. Ich schwieg, um ihm Raum für seine Wut zu lassen.

„Wissen Sie eigentlich, wie schwer es war, die Karten zu bekommen?“

„Ja, das war sicherlich nicht einfach und ich möchte mich herzlich für Ihre Mühe und Aufmerksamkeit bedanken. Nur – ich darf keine Geschenke von meinen Klienten annehmen.“

„Warum nicht?“ Er atmete tief durch und schien sich zu beruhigen.

„Es hat nichts mit Ihnen persönlich zu tun“, sagte ich ruhig. „Ich möchte nur den objektiven Blick auf Ihre Problematik in keiner Weise verlieren.“

„Sie haben ja recht. Ich habe es nur gut gemeint“, ruderte er zurück.

„Ich weiß. Als ich Ihnen die Karten zurückgab, meldete sich da Ihre innere Stimme?“

Er schaute nach oben an die Zimmerdecke und überlegte. „Ja, ich fühlte mich von Ihnen abgelehnt. Ich habe mich geschämt.“

„Wofür?“

„Dass ich Sie in eine peinliche Situation gebracht habe.“

„Welche Gedanken schossen Ihnen dabei durch den Kopf?“

„Nichts machst du richtig. Nicht mal das kannst du, du Versager!“

Ich reichte ihm ein Papiertaschentuch.

„Das tut weh. Wo kommt das her?“ Er schnäuzte sich laut in das Taschentuch.

„Das werden wir rauskriegen.“

„Meinen Sie?“

„Ja, werden wir!“

„Sie geben die Hoffnung niemals auf?“

„Optimismus zu verbreiten, ist meine Passion“, sagte ich lächelnd.


„Du bist als Kind zu wenig gestreichelt worden.“

„Und daher streichele ich mich jetzt selbst, indem ich mir mit den Händen durch die Haare fahre?“ Ungläubig sah ich meine Supervisorin Birgit an.

„Ist vielleicht eine schlüssige Interpretation.“ Sie sah nachdenklich nach oben und schien die Deckenlampe zu fixieren.

„Könnte sein oder auch nicht. Hast du noch eine andere Erklärung für meinen Tick?“

„Ich sehe das nicht als einen Tick an.“

„Sondern?“

„Ein Bedürfnis.“

„Wonach?“

„Nach Liebe?“

Ich schluckte.

„Haben deine Eltern dich geliebt?“

„Ich weiß nicht …“

Tränen rannen über mein Gesicht. Die Supervision strengte mich an. Die Gefühle fuhren Achterbahn. Trauer, Angst und Wut schüttelten meinen Körper. Ich konnte wieder einmal am eigenen Körper spüren, was meine Klienten in der Therapie durchmachten. Sie ließ mir die Zeit, die ich brauchte, um mich zu beruhigen. „Aber ich hege keinen Groll gegen die Eltern, auch nicht gegen meinen Vater, der kaum Zeit für mich hatte. Und ja: Ein wenig mehr elterliche Liebe wäre nicht schlecht gewesen.“

„Auch ich hatte kaum etwas davon“, murmelte Birgit.

Ich sah in ihre feuchten Augen und hatte das Bedürfnis, sie zu trösten. „Aber wir haben es beide geschafft, uns trotz der fehlenden elterlichen Liebe zu entwickeln.“

„Das haben wir“, sagte sie und zog die Vorhänge vor den Fenstern auf. Sie gab mir damit das Signal, dass die Stunde zu Ende war.

„Vielen Dank.“ Ich stand auf und gab ihr die Hand.

„Wir werden hören, was du in der nächsten Stunde zu berichten hast.“ Sie ignorierte meine Hand, zog mich zu sich heran und drückte mich. Nun war sie wieder meine beste Freundin und hatte die Rolle der strengen Supervisorin abgelegt.


Mein Klient Ron Maas saß weinend vor mir. „Er ist gestorben.“

„Wer?“, fragte ich und schaltete die Deckenbeleuchtung an. Es war ein dunkler Tag. Die Sonne hatte sich den Tag über nicht blicken lassen.

„Mein Vater“, schluchzte er und trocknete die Tränen mit einem übergroßen Taschentuch.

„Mein aufrichtiges Beileid. Wann ist er verstorben?“

„Vorgestern.“

Ich schenkte ihm Wasser nach und lud ihn mit einem Nicken ein, davon zu trinken. „Darf ich fragen, woran ...?“

„Aber natürlich dürfen Sie das. Sie sind mein Therapeut. Er bekam beim Rasenmähen einen Herzinfarkt. Der Notarzt konnte nur noch den Tod feststellen.“

„Was für eine Tragödie“, sagte ich und schob einfühlsam die Frage nach dem Alter des Vaters nach.

„Er ist zweiundsiebzig Jahre alt geworden.“

Den Rest der Stunde sprachen wir über seine Familie, seltsamerweise verlor er kein weiteres Wort über den verstorbenen Vater.


Vierzehn Tage später hatten wir den nächsten Termin. Er kam pünktlich wie zu jeder Therapiesitzung und war aufgeräumt und locker. Seine Haare waren frisch geschnitten und akkurat mit glänzendem Gel nach hinten frisiert. Ohne eine Frage von mir abzuwarten, redete er sofort, nachdem er sich in den Sessel gesetzt hatte.

„Die Beerdigung fand vor drei Tagen statt und es war nicht so schlimm, wie ich anfangs gedacht hatte. Ich mag es gar nicht sagen. Es war schön. Und befreiend.“

„Was war entlastend?“, fragte ich.

Er lächelte. „Dass es vorbei ist.“

„Was?“

„Das Unterdrücken und Fertigmachen. Mein Vater hat mich bis zu seinem Tod nie ernst genommen. Alles, was ich machte, egal ob privat oder im Beruf, war nie ausreichend für ihn.“

„Das Martyrium begann in Ihrer Kindheit?“

„Ja, schon als kleiner Junge kämpfte ich um seine Anerkennung. Strampelte mich in der Schule ab; lernte, bis ich buchstäblich kotzen musste. Es war ihm nie genug. Alles außer einer Eins in den Klassenarbeiten war nicht akzeptabel für ihn.“

„Und wie reagierte Ihr Vater auf eine drei in Mathe?“

„Mit Wutanfällen und Beschimpfungen“, sagte er stockend. „Sein Lieblingssatz war: ‚Du Null, du wirst es zu nichts bringen in deinem Leben.‘“

„Oh, wie schrecklich. Es muss eine furchtbare Zeit für Sie gewesen sein. Und ein brutaler Druck, keine Fehler machen zu dürfen.“

„Ja, ansonsten drohten menschenunwürdige Herablassungen und Abwertungen.“

„Trotz alledem haben Sie Ihren Vater besucht?“

„Ja, die Besuche wurden zwar seltener, aber meiner Mutter ging es nach ihrem Bandscheibenvorfall nicht gut und so habe ich in der letzten Zeit öfter bei meinen Eltern vorbeigeschaut.“

„Ihr Vater wurde im Alter nicht milder und gelassener?“

„Nein, im Gegenteil. Er stellte mich als Totalversager hin. Bei meinen Onkeln und Tanten, Nachbarn und seinen Freunden. Ich habe mich schlecht gefühlt, wenn ich bei uns zu Hause war.“

„Wie war es mit den abwertenden Stimmen in Ihnen zu dieser Zeit?“

„Es wurde immer abscheulicher. Kaum auszuhalten.“

„Ohne Pausen?“

„Ja, kaum Unterbrechungen. Merkwürdigerweise sind die Stimmen seit einigen Tagen verstummt.“

„Seit drei Tagen?“

Abrupt setzte er sich aufrecht in den Sessel. „Ja, genau. Seit drei Tagen.“

„Was war da?“

„Die Beerdigung meines Vaters“, keuchte er. „ Wollen Sie damit sagen, dass mein Vater für die Stimmen in mir verantwortlich war?“

Ich schwieg.

„Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen? Das liegt nahe. Ich habe die Stimme meines abwertenden Vaters gehört. Nach all den Jahren. Unglaublich.“

„Wir Menschen haben alle blinde Flecken“, sagte ich. „Das sind Dinge in uns, die wir nicht sehen wollen und können. Weil sie zu schrecklich für uns sind.“

„Ich wollte nicht sehen, dass mein Vater die Ursache für meine Selbstabwertung war.“ Er schüttelte ungläubig seinen Kopf.

Ich ließ ihm Zeit, um die Erkenntnis zu verarbeiten. Er lehnte sich in den Sessel zurück und entspannte sich langsam.

„Aber da die Stimme meines Vaters mit ihm ins Grab gegangen ist, will ich keinen Groll gegen ihn hegen.“

„Sie haben inneren Frieden gefunden?“

„Ich arbeite daran.“

FP 0621 alles App Page40 Image2Klaus Christiansen:
Lachen. Tanzen. Lieben.
Geschichten aus der psychologischen Beratungspraxis.
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FP 0621 alles App Page44 Image1Klaus Christiansen
Heilpraktiker für Psychotherapie, Psychologischer Berater, Coach, Paartherapeut
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Foto: © Anna Lurye