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Meilensteine des Lebens

Autor: Prof Dr. Ahlborn

Die hier abgedruckte Einleitung zu einem Band der großen Bertelsmann Lexikothek (hier:"Meilensteine des Lebens l") habe ich als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Bertelsmann-Lexikon-Verlags geschrieben. Ihr Abdruck erfolgt mit Genehmigung des Verlags. Ich möchte damit zugleich auf dieses Werk hinweisen und Ihr Augenmerk auf die in diesem Heft enthaltene Annonce lenken. Die Lexikothek scheint mir für Psychologische Beraterinnen und Heilpraktikerinnen für den Bereich der Psychotherapie sehr empfehlenswert zu sein.

Die Stationen des menschlichen Lebens heißen Meilensteine, weil mit diesem Begriff sowohl Distanzen als zugleich auch deren Markierungen bezeichnet werden, die wir nicht mit Siebenmeilenstiefeln hinter uns bringen, sondern Meile für Meile durchwandern sollten. Der Begriff Meile bezeichnet eine Strecke, die vor oder hinter uns liegt, deren Ziel oft meilenweit entfernt zu sein scheint, das zu erreichen sich jedoch lohnt, wobei auf dem Weg dorthin Meilensteine stehen werden, die uns Wegweiser sind: für Zukünftiges, das auf Vergangenem beruht. Doch nicht nur am Ende eines jeden Lebensabschnitts, wie sie in der Aufeinanderfolge dieser beiden Bände beschrieben werden, sondern auf der Lebensabschnittsstrecke selbst müssen wir Meilensteine dort errichten, wo sich Wendepunkte in unserem Leben, seien sie vom Schicksal bestimmt oder selbst inszeniert, einstellen. Das Begreifen der eigenen Person, das Finden der Liebe, ein Erkennen der Endlichkeit des eigenen Daseins, aber auch Begegnungen mit Personen und Situationen sind hier angesprochen. Wir werden in den jeweiligen Lebensabschnitten unsere Rollen zu spielen lernen; etwa im Sinne des Shakespeare'schen »Wir sind alle Schauspieler auf der Bühne des Lebens«, auf der wir, ihm zufolge, jene sieben Hauptrollen zu spielen haben, die sich auch in den Kapiteln dieser beiden Bände wiederfinden. Zugleich werden wir aber auch unsere ureigene Biografie zu entwickeln haben, wie es in einigen Unterkapiteln gesondert angesprochen wird. Gibt es etwas, das unseren Meilensteinen als Wegbeschreibung vorgegeben ist? Ein Menschenbild, dem wir uns verpflichtet fühlen? Ein Ich-Ideal, dem wir folgen oder einen Gott, der uns den Weg zeigt? Die Antwort lautet: Wie auch immer, ob es unser eigener oder Gottes Wille ist, der uns leitet, ob es eine Philosophie, eine Religion oder eine andere Weltanschauung ist, der wir folgen - die Meilensteine setzen wir. Und das ist auch das Anliegen beider Bände: mögliche Lebensweisen aufzuzeigen, Hilfestellungen zur Identitätsfindung, zur Entwicklung eines Gewissens und einer Moralität zu bieten, die uns auf unserem Lebensweg Orientierung geben, sozusagen verinnerlichte Meilensteine
sind. In den beiden vorliegenden Banden wird Gesundheit das höchste Gut genannt und in der Tat ist sie (neben Glück und Geborgenheit) einer der Wünsche.die in Märchen immer wieder an die gute Fee
gerichtet werden und deren Erfüllung offensichtlich zu einem wirklich lebenswerten Leben gehören. Die leibseelische Ganzheit, die Gleichgewichtslage zwischen körperlichem Wohlbefinden und seelischer Ausgeglichenheit, dieser vielbeschworene psychosomatische Zusammenhang ist heute so sehr in den Vordergrund menschlichen Interesses gerückt, dass wir geraderzu davon sprechen können, dass sich Gesundheit als Lebensstil etabliert hat. Dieser Sachverhalt spiegelt sich auch in seiner politischen Dimension wider: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definierte in ihrer vielbeachteten Deklaration von 1985 Gesundheit als »körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden, nicht nur als die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen«. In der Ottawa-Charta ging sie ein Jahr später noch weiter: »Die grundlegenden Voraussetzungen für Gesundheit sind Frieden, Obdach, Ausbildung, Ernährung, ein Einkommen, eine stabile Wirtschaftslage, verlässliche Ressourcen, soziale Gerechtigkeit und Gleichheit«. Damit machte die WHO unmissverständlich deutlich, dass trotz aller medizinischer Fortschritte die meisten Menschen noch immer an gesellschaftlich bedingten Ursachen erkranken. Auch der Umgang von Menschen miteinander, ihre soziale Realität, beeinflusst die gesundheitliche Konstitution eines jeden Menschen. Arbeit in einer angenehmen Atmosphäre beispielsweise schafft positiven Stress, beflügelt die Lebensgeister und beschert Erfolg und Selbstbestätigung. Arbeit in einer unerfreulichen Atmosphäre, in der ein Großteil der Energie in die Auseinandersetzung mit missgünstigen Kollegen gesteckt wird und die eigentliche Arbeit vernachlässigt wird, führt indes zu belastendem Stress, der auf Dauer auch einen organisch völlig gesunden Menschen körperlich krank machen kann. Das Gleiche gilt für Menschen, die sich scheuen, Konflikte auszutragen, die eher grüblerischer Natur sind, anderen aus dem Weg gehen, ihnen die Schuld an aufkommenden Konflikten geben und unter der schwelenden Spannung leiden. Auch sie schaffen durch ihre Unfähigkeit oder ihren Unwillen zur offenen Aussprache, ihre Introvertiertheit, die besten Voraussetzungen für ernsthafte und möglicherweise chronische Gesundheitsstörungen.
Es scheint also, dass Gesundheit viel häufiger durch soziale Umstände gefährdet wird als durch Krankheitserreger oder organische Defekte. Bei der Gestaltung unseres Lebens sollten wir diesem Umstand Rechnung tragen und sowohl unseren Geist als auch unseren Körper pflegen und gesund erhalten.

Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt sind die ersten Stadien unserer Existenz, in denen eher die Meilensteine der Eltern unser Handeln bestimmen. Nach der Geburt sowie im Säuglings- und Kleinkindalter, also bevor wir »Ich« zu sagen in der Lage sind, werden wir weitgehend auf den Weg gebracht. Die in »Meilensteine des Lebens« ausführlich beschriebenen Merkmale und Kriterien der Empfängnis haben sich gegenüber früheren Zeiten inhaltlich enorm verschoben. Bis zum letzten Jahrhundert war es fast selbstverständlich, Kinder zu gebären, die häufig gar nicht so sehr als Segen empfunden wurden, da mehr oder weniger ständige Schwangerschaften die Familien überforderten, die Kinder lediglich als Altersvorsorge akzeptiert wurden und demnach der Stellenwert von Neugeborenen teilweise eher gering war. Heute sind die individuelle Familienplanung, die bewusste Entscheidung für Kinder, die Zentrierung des Lebens der Eltern auf die Kinder, aber auch Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbrüche, Steriliation, Infertilität und künstliche Befruchtung in den Vordergrund gerückt. So steht die Empfängnis im Zentrum des Trachens und Fühlens und die
in diesem Kapitel gegebenen Hinweise erlangen besondere Bedeutung. Der Schwangerschaft und einer Fülle von Hinweisen zu deren optimaler Gestaltung ist daher ein weiterer Teil der »Meilensteine des
Lebens« gewidmet. Die neueren Erkenntnisse der Geburtsvorsorge, optimale Schwangerschaftsvorbereitung und Risikovermeidung sind darin so praxisnah vorgestellt, dass sich daraus direkte Anleitungen
für Schwangere und deren Partner ergeben.Der hohe Standard der Schwangerenberatung spiegelt sich in den Unterkapiteln wider. Die vorgestellten Praktiken und Methoden der Geburtsvorbereitung,
Geburtsunterstützung und -erleichterung bis hin zu medizinischen Eingriffen zeigen sehr deutlich den Fortschritt, den die Geburtskunde aufweist. Die sanfte Geburt, aber auch das damit verbundene gemeinsame Erlebnis zeigen, wie sehr die Geburt heutzutage als gestaltetes Wunder erlebt wird, was besonders im Vergleich mit den früher so ganz anders eingerichteten Geburtsorten deutlich wird. Die Zeit nach der Geburt, insbesondere die Mütterberatung, nimmt heute in der Fachliteratur einen hohen Stellenwert ein und die Erkenntnisse der Kleinkindforschung, vor allem aus dem Bereich der Entwicklungspsychologie, sind gegenwärtig so weit gediehen, dass sich daraus für den optimalen Umgang mit Kleinkindern Empfehlungen ergeben, die in diesem ersten Lebensabschnitt die maximale
Fürsorge ermöglichen. Wenn wir dann, etwa mit 11/2 Jahren, zum ersten Mal unser Ich und damit unsere Individualität entdecken, beginnen wir eigene Spuren zu hinterlassen, ohne jedoch eigenständig erste Pflöcke einschlagen zu können. Die Kindheit, die große Zeit der emotionalen, geistigen und sozialen Entwicklung in und durch Familie, Kindergarten und Schule, ist der entscheidende Lebensabschnitt
dafür, ab wann und in welcher Weise wir später eigene Meilensteine setzen. In der Pubertät und den Folgephasen Jugend und junges Erwachsenenalter geht es vor allem um die Loslösung von Altgewohntem und das selbstständige Suchen und Finden eigener Vorbilder. Die »Meilensteine des Lebens« beschreiben die Kindheit bis zur Pubertät in ihren kognitiven, emotiv en und sozialen Ansprüchen. Vom spielenden Lernen über die Sprachförderung bis hin zu Schulproblemen werden Anleitungen zur richtigen Erziehung und Förderung im Elternhaus, in Kindergarten und Schule gegeben, die es vor allem den erziehungsberechtigten Eltern und anderen primären Bezugspersonen ermöglichen, fachwissenschaftliche und gleichzeitig praktische Ratschläge einzuholen. Die Pubertät, diese für die Kinder so bedeutsame und schwierige und für die Erzieher und Lehrer oft so aufreibende Zeit, wird in ihren körperlichen Bestimmungsmerkmalen und in ihren sozialen Komponenten beschrieben. Dieser Loslösungsprozess von den Eltern und/oder Vorbildern und die heutzutage meist problematisch erscheinende Neuorientierung wird so anschaulich vorgestellt, dass sich daraus mehr Verständnis auf Seiten der Erwachsenen ergeben wird.

Das gilt auch für die Darstellung der jungen Jahre. Dies ist die Zeit der Identitätsbildung, deren Besonderheit heute darin besteht, eine so genannte Patchwork-Identität entwickeln zu müssen, um die Vielzahl an Einflüssen aus den Gleichaltrigengruppen, den Massenmedien und dem Elternhaus zu integrieren. Zum Erwachsenenalter und der mit dem Erwachsensein einhergehenden selbstverantwortlichen Bezeugung des eigenen Weges gehört es, nunmehr selbst Bezugsperson für Andere sein zu wollen, ihnen zu zeigen, wie wir mit unserem Leben und unseren eigenen Wegweisern umgehen, welchen Orientierungen wir folgen. Die mittleren Jahre, in denen es besonders oft zu Krisen und Wendepunkten kommt, werden uns dazu bewegen, den bisherigen Weg selbstkritisch zu betrachten, gegebenenfalls
neue Wege einzuschlagen und daraufhin die Richtung zu ändern sowie neue Wegmarkierungen zu setzen. In dieser Zeitspanne menschlichen Daseins geht es vor allem um Beruf, Partnerschaft und Freizeit und die sich hier ergebenden Möglichkeiten, aber auch Proble me. Die richtigen Lösungsstrategien zu finden ist unabdingbar für den gesamten weiteren Lebensweg, damit in den mittleren Jahren keine Midlifecrisis aufkommt und stattdessen die Selbstverwirklichung so gelingt, dass sie eine wirklich autonom gestaltete Lebensmitte ermöglicht. Dafür findet sich hier eine Fülle von Hinweisen und Ratschlägen. Die reifen Jahre, insbesondere der Abschied vom Erwerbsleben, bringen notwendigerweise die Aufgabe mit sich, im Freizeitbereich und in den persönlichen Beziehungen die richtigen Orientierungen zu finden. Das setzt sich in die Altersphase hinein fort. Es gilt, die Altersrolle zu lernen und sich am Ende des Lebenswegs Rechenschaft über den gegangenen Weg abzulegen. Die reifen Jahre und die damit
beginnenden körperlichen und seelischen Umstellungen, für die es bisher recht wenig einschlägige Lebenshilfe-Literatur gab, werden hier ebenso liebevoll wie kompetent vorgestellt, um den ins Blickfeld  gerückten Lebensabend klug und adäquat gestalten und bewältigen zu können. Eine Fülle gerontologischer Erkenntnisse wird so bereitgestellt, dass sich daraus eine gelungene Gestaltung dieses Lebensabschnitts entwickeln lässt. Im Kapitel »Tod« stehen daraufhin die Rückschau und eventuell die Vorbereitung auf ein Leben nach dem Tod im Vordergrund. Es gilt, einen letzten Meilenstein zu erwarten, den, wie am Anfang, andere für uns setzen werden: unseren Grabstein, das letzte Monument unserer Biografie. Dieser Teil der »Meilensteine des Lebens« beschäftigt sich mit dem Sterben und zeigt ausführlich die Bedeutsamkeit von Hospizbewegung und Sterbehilfe, aber auch die in letzter Zeit entwickelten Möglichkeiten, das Sterben nicht als etwas Grausames und Schmerzhaftes erleben zu müssen, sondern es als einen Teil des Lebens anzuerkennen oder aber auf ein Leben nach dem Tod zu hoffen. »Vor allem eins: dir selbst sei treu« - diese Aufforderung des Polonius (in Shakespeares Hamlet) beschreibt eine der Haupttugenden, die zu jenem Kanon gehört, dessen Gesamtheit, nennen wir sie Charakter, die Richtschnur, das Schrittmaß, die inneren Meilensteine in sich versammelt. Folgen wir unseren eigenen Maximen, haben wir das erreicht, was gemeinhin Gesundheit, körperliche sowohl wie seelische, genannt wird. Sie bewirkt, dass wir mit uns im Reinen, d. h. auf dem rechten Weg sind.