Skip to main content

Bindungsprozesse – gestalttherapeutische Perspektiven

2016 03 Bindung1

Bindung als Motor für gelingende Er- und Beziehungsprozesse

Im Rahmen meiner Praxis für Gestaltpädagogik und Gestalttherapie arbeite ich oftmals an der Schnittstelle der (Un-)Wirksamkeit aktueller Erziehungsprozesse und den Auswirkungen vergangener misslungener Erziehungsprozesse auf die Beziehungsfähigkeit und Lebensqualität des erwachsenen Klienten.

fotolia©zdgma4Beziehungen eingehen zu können, ist eine zutiefst menschliche Fähigkeit und notwendig für das Überleben des Individuums. Diese Fähigkeit wird schon in frühester Kindheit angelegt und ist abhängig von den ersten Bindungserfahrungen, die das Kind macht. Sie schlägt sich in den synaptischen Verbindungen des kindlichen Gehirns nieder.

„Das System im menschlichen Hirn, das es uns erlaubt, emotionale Beziehungen einzugehen und zu unterhalten, wird im Kindesalter, in den ersten Jahren des Lebens entwickelt. Erfahrungen, die man in dieser frühen, verletzlichen Lebensphase macht, sind entscheidend und prägend für die Fähigkeit, intime und emotional gesunde Beziehungen einzugehen.“ (Bruce D. Perry) Er- und Beziehungsprozesse können dann gelingen, wenn es zuvor positiv verlaufene Bindungserfahrungen gegeben hat. Kinder, denen es in ihrer frühen Kindheit an solchen positiven Erfahrungen gemangelt hat, zeigen eine auffällige Gefühlsverarbeitung, der Aufbau von stützenden Beziehungen ist erschwert, wenn nicht unmöglich. Diese Kinder haben offensichtliche Entwicklungsdefizite, die sich durch entsprechende Förderung größtenteils reduzieren lassen. Die eher unsichtbaren Defizite auf der emotionalen und sozialen Ebene wirken jedoch langfristig nach.

Zunächst zwei Fälle aus meiner Praxis

Max K. (8 Jahre). Frau K. ist 35 Jahre alt und lebt zusammen mit ihren vier Kindern (8, 7, 6, 4 Jahre), die unterschiedliche Väter haben. Max ist der Älteste. Er wird seit seinem zweiten Lebensjahr zur Versorgung der Geschwister herangezogen, ist fünfmal umgezogen und hat drei neue Partner der Mutter kennengelernt. Ein Teil seiner Kindheit fand im betreuten Wohnen statt. Sein Leben hat zum jetzigen Zeitpunkt keinerlei Kontinuität oder Sicherheit. Seine Mutter ist nicht in der Lage, seine Bedürfnisse zu sehen und adäquat zu erfüllen. Im Gegenteil, sie erwartet von ihm, dass er sie unterstützt.

Max zeigt schon als Kleinkind im Umgang mit fremden Betreuerinnen keine altersentsprechenden Hemmungen, er sucht nur selten die Nähe der Mutter und reagiert nicht auf deren Weggehen oder Kommen. Im Kleinkindalter hat Max fast immer einen Schnuller im Mund, seine Artikulation ist verwaschen. Erst als sich im Rahmen des betreuten Wohnens Betreuerinnen mit ihm beschäftigen, macht er Fortschritte in der sprachlichen und kognitiven Entwicklung.

Heute wird er von den Lehrern und Erziehern als oberflächlich angepasst beschrieben. Er tritt und schlägt seine Mutter, wenn sie sich nicht so verhält, wie er das möchte.

Die sensible Phase für die Entwicklung von Bindung sind die ersten drei Jahre, besonders im ersten Lebensjahr werden hierfür die Voraussetzungen gelegt. Max hat neben der nur rudimentär versorgenden und bindungsfähigen Mutter wenige Möglichkeiten, diese Defizite eventuell durch eine verlässliche Vaterfigur bzw. andere Beziehungspersonen zu kompensieren. Auch die ersatzweise zumindest unterstützende Bindung an Orte oder Institutionen kann nicht wirken, da er immer wieder umgezogen ist.

Frau J. (44 Jahre). Sie arbeitet in einer physiotherapeutischen Praxis. Sie hat diverse misslungene Beziehungen zu Männern hinter sich und sieht ihre Möglichkeiten, eine nahe Beziehung zu leben, stark eingeschränkt. Sie sucht mich auf, da sie sich zunehmend verwirrt und unsicher fühlt. Sie hat das Gefühl, ihre Familienangehörigen brauchen nur Knöpfe zu drücken und sie funktioniert so, wie diese es sich von ihr wünschen.

Frau J. sagt von sich, sie sei auf der Straße groß geworden, obwohl sie nach außen hin ein funktionierendes Elternhaus gehabt hat. Der gewalttätige Vater ist beim Ordnungsdienst, die traumatisierte Mutter Altenpflegerin. Die emotionale Versorgung der Kinder wird nur rudimentär gewährleistet, da die Eltern sehr mit sich selbst beschäftigt sind. Die Eltern sind hinreichend verfügbar, es gibt keine Umzüge oder sonstigen Familienveränderungen. Das System bleibt über Jahre unglücklich, aber stabil. Die Elternbeziehung ist konflikthaft und abwertend, die Kinder werden als Puffer benutzt.

Die Klientin scheint gebunden, allerdings mutet es an, wie eine Bindung ohne positive, nährende Inhalte. Die Beziehungen innerhalb der Familie sind alle konflikthaft und destruktiv – aber beständig. Die Bindungen sind starr und ohne jede Flexibilität, sie lassen keine Entwicklung zu. Die Klientin leidet unter ihrer eigenen Bindungsunfähigkeit und der nicht geübten Loslösung von Bindung. Die Inhalte der Bindung können nicht integriert werden und damit nicht in den Hintergrund treten.

Gelingende Bindung ist zunächst einmal die Voraussetzung für die weitere positive Entwicklung des Säuglings hin zum Erwachsenen.

Der Säugling erfährt, dass seine Umwelt auf seine Bedürfnisse angemessen antwortet. Er erfährt, dass es gut ist, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und auszudrücken, und erlebt die Welt als überschaubar und sicher. In Notsituationen wird die nötige Unterstützung gewährt.

Dieses Wissen macht die Hinwendung zum Erwachsenen möglich und das Kind „glaubt“ dem Erwachsenen die erwünschten korrektiven erzieherischen Eingriffe. Im weiteren Verlauf lernt es, dass Bindung sich verändern kann, dass es eine altersentsprechende Möglichkeit gibt, die Bindung zu modifizieren. Das Kind entwickelt trotz der veränderten Bindung in der Pubertät ein Gefühl sicherer Zugehörigkeit zur Ursprungsfamilie und dadurch eine soziale Einbindung in die Gesellschaft.

Das ermöglicht ihm den Schritt in die Selbstständigkeit und den Aufbau eigener Familiensysteme. Bindung und deren altersentsprechende Veränderungen scheinen ein lebenslang wirkender und wirksamer Prozess zu sein.

Gestalttherapeutische Grundlagen

Foto U. BudszuhnDie Gestalttherapie bietet aufgrund ihrer besonderen Gewichtung von Beziehung und Kontakt, des „Zwischens“, Interventionsmöglichkeiten, durch die die Bindungs- und Beziehungsfähigkeit sowohl auf der Eltern- wie auch auf der Kinderebene modifiziert und verbessert werden kann. An dieser Stelle nenne ich, allerdings stark verkürzt und auf das Verständnis des Folgetextes fokussiert, einige relevante gestalttherapeutische Grundlagen.

– Grundlage der Gestalttherapie ist die Gestaltpsychologie, die als Ergebnis ihrer Gehirnforschung Folgendes zutage gefördert hat: Der Mensch nimmt nicht einzelne Sinnesdaten wahr, die dann im Kopf zusammengesetzt werden, sondern es werden bereits sinnvolle Einheiten gebildet und abgespeichert. Diese Einheiten werden Gestalten genannt, immanentes Ziel dieser Gestalten ist eine Ganzheitlichkeit. Das Gehirn möchte sie als „geschlossene“ Gestalten abspeichern. Unabgeschlossene Gestalten hinterlassen unbehagliche Gefühle und führen zu dem Bemühen, diese abschließen zu wollen.

– Die Gestalttherapie geht davon aus, dass die Aufmerksamkeit/Bewusstheit die treibende Kraft des therapeutischen Prozesses ist. Eine Steigerung der Bewusstheit ist deshalb immer Ziel gestalttherapeutischer Interventionen. Die Steigerung der Bewusstheit bezieht sich auf alle sinnlichen, gefühlsmäßigen, intellektuellen, sozialen und spirituellen Dimensionen.

– „Die Gestalttherapie hat ein paradoxes Verständnis vom Veränderungsprozess: Veränderung geschieht, wenn die Bewusstheit von dem, was ist, unterstützt wird.“ (L. Jacobs, 1989) Also erst wenn man sich selbst als das hinnimmt, was und wer man geworden ist, können neue Schritte und Entwicklungen möglich werden.

– Kontakt, Kontaktprozesse und Kontaktstörungen stehen im Zentrum des gestalttherapeutischen Arbeitens. Kontakt geschieht an der Grenze zwischen Individuum und Umwelt, hier finden die psychischen Ereignisse statt. Hier werden Gedanken, Handlungen, Verhalten, Emotionen erlebt und verarbeitet. Kontakt heißt auch, mit den eigenen Bedürfnissen in Kontakt zu kommen, diese zu erkennen und zu befriedigen und am Ende der Kontaktphase eine Wertung vorzunehmen. Die Kontaktprozesse ermöglichen das Überleben und die Anpassung an neue Umwelten und Gegebenheiten, sind jedoch in ihrem strukturellen Verlauf auch störbar. Psychische Störungen gehen auf Probleme in der Kontaktverarbeitung zurück.

– Eine weitere Grundlage der Gestalttherapie ist die Feldtheorie Kurt Lewins (1963), die besagt, dass das Verhalten eines Menschen vom gesamten Feld abhängig ist, das wirkt. Im therapeutischen Kontext sind beide, Therapeut und Klient, Teile des Felds. Der „heilende Dialog“ entsteht im „Zwischen“. Wirklicher Dialog wird nicht gemacht, sondern geschieht. (Votsmeier, 1994)

– Die Gestalttherapie baut auf die eigenen Erfahrungen der Klienten und die Möglichkeit von korrektiven Erfahrungen und arbeitet schwerpunktmäßig mit Selbsterfahrungsexperimenten. Das immanente Thema dieser Experimente ist die Art und Weise, wie der Klient es immer wieder schafft, den Kontakt zu unterbrechen bzw. zu beeinträchtigen.

Bindung als grundlegende Kontakterfahrung

Betrachtet man Bindung auf der gestalttherapeutischen Ebene als die ersten Versuche des Säuglings, Kontaktprozesse aufzubauen und zu etablieren, so ist dies für den Säugling ein existenzielles und überlebenssicherndes Bedürfnis. Ist die Mutter ausreichend in der Lage, auf die vom Säugling ausgehenden Wünsche nach Bindung einzugehen und seine Interessenlage zu spiegeln, entwickeln sich zwischen Mutter und Kind erste zarte Dialoge, das Kind fühlt sich angenommen. Hat die Mutter aber selbst Probleme, sich in den Kontaktprozess mit dem Kind einzuschwingen, misslingt hier die erste grundlegende Kontaktanbahnung. Dies brauchen keine großen, gewalttätigen Interaktionen zu sein, es reicht, wenn die Mutter sich routinemäßig wegdreht in Situationen, in denen Kontakt benötigt wird, oder in Situationen, in denen der Säugling/ das Kind bestimmte Aspekte seiner Persönlichkeit zeigt, die die Mutter aber aus ihrer eigenen Geschichte ablehnt bzw. ausblendet. Das Kind lernt dann, dass der Kontakt zu diesen Gefühlen bestenfalls nicht erwünscht, im schlimmsten Fall gefährlich ist, und wendet sich ab. Erste Störquellen im gesamten Kontaktprozess bauen sich auf.

Zunächst versucht der Säugling/das Kind auf jede erdenkliche Weise, „diese Gestalt“ zu schließen und Kontakt/Bindung herzustellen. Es versucht, der Mutter „zu Gefallen“ zu sein und alles zu tun, damit doch Bindung/Kontakt hergestellt werden kann.

Sollte Bindung als einer der ersten Kontaktprozesse scheitern, werden die weiteren Beziehungsprozesse und natürlich auch die angrenzenden Erziehungsprozesse nicht natürlich und problemlos ablaufen.

Möglichkeiten gestalttherapeutischer Intervention

Die Gestalttherapie bietet Werkzeuge und Herangehensweisen, um problematische Bindungs- und Erziehungsprobleme aufzugreifen und abzuschließen. Den heutigen vielfach fluktuierenden Beziehungserfahrungen werden Kontinuität und Authentizität entgegengesetzt und der gestörte Kontaktprozess wird durch neue korrektive Erfahrungen bewusst gemacht und verändert.

In der Arbeit mit Kindern spielt die dialogische Rückkopplung des Tuns eine große Rolle, das Tun des Kindes wird im Kontakt mit dem Therapeuten gespiegelt. So werden die früheren misslungenen Prozesse des Einschwingens neu thematisiert und bieten neue Möglichkeiten, sich selbst zu erkennen. Das Kind spürt vielleicht zum ersten Mal „ich bin interessant“, „ich tue spannende Dinge, die auch Erwachsene interessieren“. Es gibt die Spiel- und Ausdrucksmöglichkeiten selbst vor, es bestimmt Räumlichkeit und die Zeit für das, was im Vordergrund steht.

Auch beim Erwachsenen mit früheren Bindungsproblemen ist die Plattform, auf der Veränderung geschieht, die dialogische, lebendige Beziehung. Diese hilft, ähnlich wie beim Kind, zur verbesserten Wahrnehmung von äußeren und inneren Prozessen, neue Verbindungen können entstehen, zurückgehaltene Gefühle werden im Hier und Jetzt ausgedrückt. Der Therapeut unterstützt den Prozess der Gefühlsentwicklung durch Spiegeln und Halten, auch bei schwer zu ertragenden Gefühlen, wie es eigentlich in der frühen Kindheit durch die Bezugsperson hätte geschehen sollen. Es wird sozusagen eine „Probe-Bindung“ hergestellt, die seitens des Therapeuten auf Empathie, Echtheit, Akzeptanz und Wertschätzung beruht. In der Arbeit mit erwachsenen Menschen, deren Probleme von einer Bindungsstörung herrühren, heißt das zunächst einmal, eine genaue Diagnostik der zwischenmenschlichen Problematik zu erstellen. Anschließend muss an allererster Stelle wieder die Dialogfähigkeit gestärkt werden.

Die Entwicklung einer stabilen Bindung benötigt Zeit, Konsistenz und Hinwendung zum Kind. Gerade in der heutigen Zeit, wo sich durch die neuen Medien eine ganz eigene Art, Dialoge zu führen und in Kontakt zu sein, entwickelt, ist die Gefahr groß, dass der Stellenwert von Bindung und Bindungsfähigkeit im modernen Familienalltag untergeht. Die Folgen aber, die das für nachfolgende Generationen und deren Emotionalität haben wird, sind jetzt noch nicht absehbar.

Literatur

  • Baulig, Ingeborg und Volkmar: Praxis der Kindergestalttherapie, EHP, 2010
  • Bögels, Susan: Bindungsbeziehungen. Zeitschrift Mit Kindern wachsen, Januar 2015, S. 12-17
  • Perry, Bruce D.: Die Folgen emotionaler Vernachlässigung in der Kindheit
  • Schär, Marcel; Steinebach, Christoph(Hrsg.): Resilienzfördernde Psychotherapie für Kinder und Jugendliche. Grundbedürfnisse erkennen und erfüllen. Beltz Verlag, 2015
  • Votsmeier, Achim: Die Gestalttherapie als ganzheitlich-feldtheoretischer Ansatz. Saarbrücker Gestalt-Institut, 1994

Sigrid BudszuhnSigrid Budszuhn
Diplompädagogin, Heilpraktikerin für Psychotherapie, Gestalttherapeutin, Einzel-, Paar- und Familientherapie, Arbeit mit Kindern, Praxis für Gestaltpädagogik und Gestalttherapie, Bochum
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.